Leichte Turbulenzen - Roman
lassen.
Willem starrte Vincents Augen durchdringend an, als guckte er in das magische Kristallkugelpaar eines Wahrsagers. »Na ja, von der Biografie ihrer Besitzer ausgehend müssten zumindest einige der Augen über eine gewaltige Lebenserfahrung verfügen. Beispielsweise die von Mahatma Gandhi. Was die schon alles gesehen haben! Verzweiflung, Armut, Erniedrigung, Krankheit, Schmerz, Wahn, Erfolg und Niedergang, Hoffnung und Verlust. Denk ich manchmal.« Willems helle Wimpern zitterten begeistert.
Das Fixierwachs war inzwischen so weich geknetet, dass es Ivys Zeigefinger und Daumen restlos mit einem fettig schmierigen Film überzog. »Wenn es denn die echten Augen wären, Willy. Glücklicherweise arbeiten wir ja mit Imitaten.« Ivy konnte nicht anders. Ferngesteuert und unaufhaltsam bewegte sie sich zurück zu ihrem Laptop und wischte mit dem wachsüberzogenen Zeigefinger über das Mousepad. Der Pfeil ruckte über den Monitor hin zum Mailsymbol. Sie wusste, dass es dumm war, sich in Anwesenheit ihres feinfühligen Kollegen aufs emotionale Glatteis zu begeben. Würde sie eine Antwortmail von Desmond erhalten haben, würde sie zweifelsohne mit Herzrasen und unkontrollierbarem Schweißausbruch reagieren. Im Falle einer fehlenden Antwort würde sie ebenfalls von heftigsten Paniksymptomen heimgesucht werden, die Willem definitiv nicht entgehen würden. Voraussichtlich würde sie ihr Leben augenblicklich für wertlos und beendenswert erachten und sich umstandslos aus dem Atelierfenster runter zu den Touristen auf die Marylebone stürzen. Ivys Herz hüpfte aufgeregt zwischen ihren Organen und Rippenbögen hin und her. Sie hatte drei neue Mails.
Willem stand breitbeinig vor van Gogh und ließ seine Augen wie Yin-und-Yang-Kugeln in der Handfläche kreisen. Ivy empfand das als absolut unzulängliche Geste. »Könntest du die Augen bitte wieder weglegen?« Dann beugte sie sich vor zum Monitor und klickte die erste Mail an, die von ihrer Schwester kam. »Ich will nicht, dass sie herunterfallen. Außerdem spiele ich ja auch nicht mit deinen Augen.«
»Sei nicht so bourgeois, Chuck.« Willem drückte die Glasaugen zurück in das gelbe Schaumstoffkissen. »Nur weil du neulich mit Alice und ihrem Neurologenkollegen gegenüber im Globe beim Mittagessen warst, musst du nicht alles auf die rein wissenschaftliche Ebene herunterkochen.«
»Bitte? Was denn für eine wissenschaftliche Ebene?« Die Mail ihrer Schwester enthielt ein Handyfoto von der verkabelten Lucy auf der Intensivstation. Ivy stieß die Luft aus. Um diesen herzzerreißenden Fall würde sie sich gleich nach dem Augeneinsetzen kümmern.
Willem seufzte. »Ich finde einfach, dass du in letzter Zeit ein bisschen abgebaut hast, was deine Fantasie anbelangt. Da dachte ich, dass dieser Neurologe mit seiner rationalen Sichtweise möglicherweise schuld daran ist.«
»Ich erzähle dir nie wieder, wenn ich mit jemandem zum Lunch gehe. Das ist ja unglaublich, was einem hier unterstellt wird.« Ivy redete wie aufgezogen, ohne bei der Sache zu sein. Winzig und verloren lag Lucy in dem großen Bett, den Blick fragend in die Kamera gerichtet. Betreff: »Tante Ivy, wo bleibst du?« So, wie es aussah, blieb Ivy gar keine andere Möglichkeit, als so schnell wie möglich nach Berlin zu fliegen, um ihrem kleinen Würmchen Gesellschaft zu leisten. Wie abrupt sich doch die Dinge ändern konnten.
Die zweite Mail kam zu Ivys großer Überraschung von Viola, Willems alter On-Off-Beziehung aus Studientagen, die sich inzwischen Viola Da Gamba nannte.
Liebe Ivy,
Überraschung! Ich hoffe, dir geht es gut. Willem kam gestern Abend in mein Atelier in der King’s Road (!) geschneit und wollte wissen, ob ich eine Ahnung habe, wo der gute alte Javis steckt. Zufällig weiß ich es, da mein Mann Tobey hin und wieder mit ihm Musicalprojekte in den Trafalgar Studios 1 realisiert. Zuletzt das Stück End of the Rainbow , davon hast du bestimmt schon gehört. Es hat mehrere Auszeichnungen bekommen. Tracie Bennett singt die Hauptrolle der alternden Judy Garland kurz vor ihrem Tod. Tobey war der Chefkostümdesigner für das Stück, Javis singt den Part von Walterey. (WOW!) Standing ovations! In jedem Fall ist hier seine Telefonnummer für dich. Er ist übrigens verheiratet und Vater eines Kindes. Ich hoffe, du bekommst deine Polly-Pocket-Dose von ihm zurück. Willem bemüht sich ja noch immer verzweifelt um dich – warum erhörst du ihn nicht endlich? Willem sagt, du bist seit Javis allein! Ich weiß,
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