Leichtes Beben
nicht an Spencer denken ließ. Als ihn das Schreiben ihres Anwalts erreicht hatte, hatte Spencer seine Sekretärin Glenda beauftragt, ihm einen Termin bei einem Zürcher Scheidungsanwalt zu machen.
»Herr Widmer hat in Kürze Zeit für Sie«, sagte die Dame am Empfangspult. Die recht dezent geschminkte Blondine geleitete Spencer ins Vorzimmer, einen hellen, großzügigen Raum, durch dessen weit geöffnetes |50| Fenster die vielfältigen Aromen des Frühlings hereinströmten. Am oberen Rand des rechteckigen Fensters leuchtete ein stahlblauer wolkenloser Himmel.
Spencer begutachtete die zahlreichen, auf dem kniehohen Mahagonitischchen liegenden Zeitungen und Magazine. Sowohl der »Tagesanzeiger« als auch die »Neue Zürcher Zeitung« brachten auf den Titelseiten Berichte über das Erdbeben am Vortag an der Deutsch-Schweizer Grenze. Spencer hatte am Abend vor seinem Abflug in die Schweiz in den World News im Fernsehen davon gehört.
Als Student hatte er ein Buch über das Lissaboner Erdbeben von 1755 gelesen, das seinerzeit in Verbindung mit einem Großbrand und einem Tsunami zur nahezu völligen Zerstörung der portugiesischen Hauptstadt geführt und fast einhunderttausend Menschen das Leben gekostet hatte. Seitdem horchte er jedesmal auf, wenn in den Medien die Rede von Erdbeben war.
Das Lissaboner Beben, daran erinnerte Spencer sich noch, hatte die unglaubliche Stärke von 8,5 auf der Richterskala gehabt und markierte die Geburtsstunde der modernen Seismologie. Fast sechs Minuten lang hatten die Erdstöße damals, am Allerheiligentag, angedauert und tiefe Spalten in die Straßen gerissen. Beim Lesen hatte Spencer damals gedacht: Die sechs Minuten müssen den Leuten wie eine Ewigkeit vorgekommen sein. Er hatte das Buch in den Semesterferien am Meer, in Brighton, gelesen, wo eine Tante wohnte. Spencer hatte die Tante seinerzeit öfter besucht, |51| um von zu Hause wegzukommen, wo seine Eltern so lange rund um die Uhr stritten, bis sein Vater eines Abends einem Herzinfarkt erlag. Spencer, der an seinem Vater gehangen hatte, hatte nie aufgehört, seiner Mutter Vorwürfe deswegen zu machen.
Er nahm eines der Magazine in die Hand und blätterte es flüchtig durch. Bis er bei einer Anzeige für ein Mittel gegen Haarausfall hängen blieb und sich unbewusst mit der linken Hand über den Kopf strich. Dann blätterte er weiter zu einer Parfümanzeige, in der eine leicht bekleidete, wohlgeformte Frau sich auf einem cremefarbenen Sofa räkelte und mit verträumter Miene einen blitzenden Flakon in die Höhe hielt.
Spencer ließ seinen Blick andächtig auf ihrem Körper ruhen, auf ihren schönen vollen Brüsten, den schwellenden Schenkeln, dem makellosen Gesicht.
Nein, so ein Geschöpf hatte sich ihm noch nie hingegeben, obwohl er sein Leben lang davon geträumt hatte; ohne dass ihm dies klar gewesen wäre. Warum war es ihm nicht klar gewesen? Wozu all die Mühen, wenn sie gar nicht belohnt wurden? Für diese Ehe? Was hatte er sich nur dabei gedacht, sein Leben, seine Jugend so zu vertun? Später! Immer nur später!, hatte sein Prinzip gelautet. Nun war es zu spät.
Einmal, und auch das war bereits Jahrzehnte her, hatte sich eine schmerzhaft schöne Person in sein Leben verirrt. Sie hatte gehabt, wonach er sich verzehrte, und die pure Lebenslust geatmet. Aber er hatte es nicht einmal versucht, danach zu greifen. Warum nicht? Weil er feige gewesen war. Er hatte sie nicht verdient.
Beim Gang durch die engen Gassen der Zürcher |52| Altstadt hatte Spencer seinen Blick zunächst auf die Schaufenster gelenkt, sich bald aber nur noch für die jungen, zumeist mit Jeans, Turnschuhen und leuchtend engen, oft tief ausgeschnittenen T-Shirts bekleideten Passantinnen interessiert; verehrungswürdige Geschöpfe, die sich in der gleichen Zeit und am selben Ort aufhielten wie er. Trotzdem war er unsichtbar für sie. In seinem rehbraunen Wildledersakko, den farblich passenden Lloyds und der zimtfarbenen Cordhose empfand er sich plötzlich selbst wie aus der Zeit gefallen, wie ein altbackenes Sujet. Und dennoch: In seinem Innersten fühlte er sich keineswegs alt, neuerdings sogar jugendlich. Er vibrierte geradezu unter einem Jagdtrieb, wie er ihn nicht einmal aus seiner Jugend kannte. Als Zwanzigjähriger wollte er die Philosophen verstehen, wollte, dass man ihn für einen ernsthaften jungen Mann hielt. Vielleicht hätte er die Welt besser verstanden im Bett einer Frau.
Spencer hatte, als er in London ins Flugzeug gestiegen war und seinen
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