Leichtes Beben
ihnen, linker Hand in der Ferne, eine Koppel mit Pferden auszumachen war. Dunkle, sich bewegende Punkte, die langsam größer wurden. Auf Höhe des umzäunten Geländes passierte es: Mit einem Satz schoss eines der Pferde durch ein offenstehendes Gatter, donnerte die letzten, bis an die Gleise führenden Meter heran und schlug seitlich und mit hochgerissenen Vorderbeinen gegen die Frontscheibe des Zuges. Es ertönte ein Krachen, gefolgt von einem weiteren dumpfen Laut, der unterging im Kreischen der Bremsen.
Bronnen, der das Ganze reglos mitangesehen hatte, wurde mit voller Wucht aus seinem Sitz gehoben, er flog mit dem Kopf gegen die Rückenlehne des Vordersitzes, wurde zurückgeworfen und glitt zu Boden. Aus dem hinteren Teil des Waggons ertönten Schreie, verstummten aber sogleich wieder. Auf der Frontscheibe zerfaserte das Pferdeblut sternförmig und sprenkelte auch die Seitenfenster, an denen es schillernd herunterlief. Nach etwa fünfzig Metern kam der Zug endlich zum Stehen. Sekundenlang herrschte eine gespenstische Ruhe. Dann rappelte Bronnen sich auf, blickte sich nach hinten um und sah, dass der Kinderwagen seitlich auf dem Boden lag. Daneben |41| knieten die Eltern. Und schon im nächsten Moment, als sei der jäh ins Stocken geratene Lebensfilm wieder angelaufen, ertönte das Schreien des Babys. Dann kamen die Frauen aus dem hinteren Teil des Waggons nach vorn gelaufen.
Draußen, das konnte Bronnen sehen, standen zwei Männer neben den Gleisen. Der eine gestikulierte mit den Armen, während der andere in sein Mobiltelefon sprach.
Auf den Hügeln blinkten die Blätter eines kleinen Pappelhains. Ein Anblick, der Bronnen unerklärlicherweise rührte und ein ähnliches Gefühl wie damals in ihm entfachte, als er sich als Fünfzehnjähriger bei dem Versuch, eine Scheibe Schwarzbrot abzuschneiden, mit dem rasierklingenscharfen Brotmesser die Kuppe des linken Zeigefingers abgetrennt hatte und er, bevor ihm schlecht wurde, mit Blick auf die im Ablauf liegende Bratpfanne gedacht hatte: Wie gerne würde ich mal wieder Kaiserschmarren essen!
Er riss sich vom Anblick der Bäume los und blickte stattdessen in das Gesicht einer Frau, die ihn anschrie: »Einen Arzt! Wir brauchen einen Arzt!« Dabei deutete sie in Richtung der Führerkabine.
»Ja, ja, natürlich«, stammelte Bronnen, tastete nach dem Handy in seiner Brusttasche und zog es heraus. Dann drückte er irgendwelche Tasten und starrte ungläubig auf dessen Display. »Ich habe keinen Empfang!«
»Tun Sie doch was!«, rief die Frau von neuem und rüttelte an seinem Arm. Ihr dichtes krauses Haar wurde von einem engmaschigen Netz gehalten.
|42| Inzwischen war auch die junge Familie aus dem hinteren Teil nach vorn gekommen. Bronnen konnte das Weinen des Babys hören.
»Was soll ich denn tun?«, entgegnete er, schob das Handy in seine Hosentasche und lief an der Frau vorbei zum Führerstand.
Der Zugführer, ein höchstens dreißig Jahre alter Mann, lag mit leicht zur Seite geneigtem Kopf über der Lenksäule. Doch er atmete, sein Rücken hob und senkte sich.
Draußen, auf den Gleisen, hatte sich inzwischen eine Handvoll Personen versammelt, Bauern aus den umliegenden Höfen vermutlich. Neben den Gleisen standen jetzt zwei grüne, mit bunten Girlanden geschmückte Traktoren. Doch noch immer war keiner auf die Idee gekommen, sich um die Zugreisenden zu kümmern.
Bronnen spähte über den Verletzten hinweg durch die blutverschmierte Frontscheibe. Dann betätigte er wahllos sämtliche Knöpfe des Armaturenbretts, drückte da und dort, doch die Türen ließen sich nicht öffnen.
»Die Feuerwehr kommt! Da, sehen Sie nur!«, rief die Frau in Richtung des Ehepaars mit dem Kinderwagen. Dabei trat sie ans Fenster und zeigte auf das Blaulicht in der Ferne. Dann ging sie auf Bronnen zu und sagte: »Die holen uns hier raus.« Und nach einer Pause: »Sind Sie in Ordnung?«
»Ja«, sagte Bronnen, »alles okay. Aber den da hat’s ziemlich erwischt.«
»Meinen Sie, er ist tot?« Die Frau sah ihn fragend an.
|43| »Nein«, sagte Bronnen. »Er atmet.«
»Was ist denn eigentlich passiert?«, fragte nun der junge Mann, der den Kinderwagen hielt. Seine Frau hatte ihre Augen auf ihn gerichtet, während er sprach. Das Baby wiegte sie im Arm.
»Ein Pferd«, sagte Bronnen, »es ist direkt vor den Zug gelaufen. Einfach so. Er hatte keine Chance.«
»Ist er tot?«, fragte die junge Frau mit einem hörbaren Zittern in der Stimme. Offenbar hatte sie das Gespräch zwischen
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