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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Blick durch das Seitenfenster über die unter heftigen Regenschauern liegende Startbahn gleiten ließ, nicht damit gerechnet, in Zürich Sonnenschein und Temperaturen um die zwanzig Grad anzutreffen. Nun war er fest entschlossen, nicht sofort nachdem die Modalitäten für die Scheidung besprochen waren, nach London zurückzufliegen. Er wollte noch eine Weile in der Stadt bleiben und am Abend eine Bar besuchen.
    Spencer war Lektor für Belletristik in einem angesehenen Londoner Verlagshaus. Ursprünglich hatte er selbst von einer Karriere als Schriftsteller geträumt |53| und jahrelang unermüdlich an einem Roman über einen Abenteurer geschrieben. Er hatte das nach achtjähriger Arbeit endlich fertiggestellte Manuskript unter einem Pseudonym an mehr als ein Dutzend renommierter Verlage geschickt und nach monatelangem Ausharren ausnahmslos Absagebriefe erhalten. Mit einem Glas Brandy in der Hand hatte er das Manuskript feierlich im Vorgarten des Hauses seiner Tante verbrannt. Irgendwie hatte er gehofft, mit dieser Geste seinem Scheitern Grandezza zu verleihen. Doch dann hatte es zu nieseln begonnen, und das Manuskript kokelte mehr, als dass es brannte, und die rußige Stelle im Gras blieb ein Schandfleck im Garten, wie er später mit grimmiger Befriedigung feststellte.
    Und so bewarb er sich als knapp Dreißigjähriger auf eine Lektorenstelle und erhielt zunächst die Chance, eine kleinere, neu ins Programm gehobene Reihe belletristischer Debüts zu betreuen.
    Spencer hatte geglaubt, das Leben werde es von nun an gut mit ihm meinen. Die Autoren waren begeistert von seinem Einfühlungsvermögen, und sie spürten seinen Respekt vor dem geschriebenen Wort. Er löste die Textarbeit mit der Akribie eines Mathematikers, der streng den Gesetzen der Logik folgte. Und den Erfolg, den sie mit den vom ihm redigierten Texten hatten, empfand er als Bestätigung. Bald gehörte Spencer zum sogenannten »Inner Circle«, zur Führungsriege, und man vertraute ihm die gestandenen Autoren, die Aushängeschilder des Hauses an.
    War es die bevorstehende Scheidung oder waren es die wie mit Puderzucker bestäubten Berge und der |54| See mit seinen weiß leuchtenden Ausflugsdampfern, die plötzlich ein Gefühl von Freiheit in ihm aufsteigen ließen? Das Gefühl, dass ihm das Leben plötzlich wieder offenstand?
    »Ich willige widerspruchslos in die Scheidung ein«, sagte Spencer entschlossen und blickte in das faltige Gesicht seines Gegenübers.
    »Das heißt, Sie akzeptieren sämtliche Ansprüche Ihrer Frau?«, antwortete der Advokat teilnahmslos.
    »Ganz recht«, sagte Spencer.
    »Aber wozu benötigen Sie dann meine Hilfe?«
    »Damit Sie sicherstellen, dass meine Frau erhält, was ihr zusteht«, sagte Spencer.
    Er hätte nicht sagen können, woher sein plötzlicher Großmut Esther gegenüber rührte. Schließlich war sie es gewesen, die eines Morgens von Scheidung gesprochen hatte. Doch wenn er ehrlich war, und das schien er jetzt zu sein, musste er sich eingestehen, dass sie nur ausgesprochen hatte, was er selbst bereits seit geraumer Zeit gefühlt hatte: dass ihre Beziehung am Ende war. Doch seit wann eigentlich? Und weshalb? Was hatte er sich denn von dieser Ehe erwartet? Und warum hatten sie überhaupt geheiratet?
    Esther hatte allen gefallen, die er kannte. Sie war nicht dumm und nicht hässlich. Aber war sie deshalb hübsch und verständig gewesen? Sie hatte schöne Beine, die auch, als sie älter wurde, ihre Form nicht verloren. Aber das konnte es wohl kaum gewesen sein. Hatte sie je ein Verlangen in ihm entfacht, das gebrannt hatte? Einen Taumel? Einen Rausch?
    Spencer wollte einfach kein Grund einfallen, weshalb |55| er sie einmal ausgesucht hatte. Rührte daher seine plötzliche Generosität? Weil er froh war, dass dieser Irrtum zu Ende ging?
    Spencer träumte von einer Liebe, die größer war als sein Alltag. Von einem Schwindel, den die Anwesenheit einer Frau in ihm auslöste. Ihr Blick. Der Schwung ihrer Hüften. Oder die Art, wie sie sich vielleicht mit der Zunge über die Lippen fuhr, wenn ihr etwas so schmeckte, dass sie keine Worte dafür fand.
    Nachdem er sämtliche Papiere unterschrieben hatte, verließ er die Kanzlei und strebte zum See hinunter. Über der zentralen Anlegestelle kreisten Möwen, helle, sich in der Höhe ruhelos drehende Punkte. Am Ticketschalter drängte sich eine Gruppe Japaner. In der Luft trieb der Geruch von Motoröl. Von irgendwoher ertönte Gitarrenmusik.
    Spencer dachte an den Glanz der

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