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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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untergehenden Sonne und löste ein Ticket. An Deck fand er einen Platz neben einer älteren, mit einem hellen Allwettermantel und dazu passenden, ebenfalls hellen Schuhen bekleideten Frau, über deren der Sonne zugewandtes Gesicht in unregelmäßigen Abständen ein Zucken ging. Bis sie sich irgendwann wortlos erhob, wegging und nicht mehr wiederkam. Stattdessen setzte sich wenig später, so als habe sein Wünschen geholfen, eine jüngere Frau neben ihn. Ihr schwarzes, schulterlanges und in der Mitte gescheiteltes Haar umrahmte ihr klar geschnittenes Gesicht wie ein Vorhang. Ihre Hände waren auffallend gepflegt. Und wenn sie die Stellung ihrer langen Beine änderte, die bis zu den Knien von einem weinroten Samtrock bedeckt waren, traten an |56| den schlanken Waden kräftige Muskelstränge hervor. Sie hatte, wie die meisten anderen auch, ihr Gesicht der Sonne zugewandt und hielt die Augen geschlossen. Manchmal fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die rot geschminkten Lippen.
    Spencer konnte nicht anders, als seinen Blick immer neu über den schön geschnittenen Mund, die Wangen und ihren makellosen Hals gleiten zu lassen. Kein Detail schien ihr Gesicht zu dominieren, vielmehr bildeten ihre Züge zusammengenommen diese klare, einnehmende Schönheit. Schließlich sprach er sie an, wobei sein Blick auf einen sich in sein Sichtfeld schiebenden Anlegeplatz gerichtet war: »Großartig, dieses Wetter, nicht wahr?«
    Spencer erschrak sogleich über die Dummheit dieses Satzes. Doch im nächsten Moment drehte die Frau ihren Kopf, ohne dabei die Augen zu öffnen, ein Stück in seine Richtung und erwiderte in tadellosem Englisch: »Was wollen Sie? Meinen Sie vielleicht, ich hätte nicht gespürt, wie Sie mich die ganze Zeit angestarrt haben?«
    »Entschuldigen Sie!« Spencer blickte ihr abwartend auf die geschlossenen Lider und sagte: »Aber Sie gefallen mir!«
    Ihre Sicherheit bekam erste Risse, und sie antwortete, um Haltung bemüht: »Wenn Sie etwas Sinnvolles machen wollen, dann bestellen Sie uns eine Tasse Kaffee! Und hören Sie auf, dummes Zeug zu reden!« Dann rückte sie ihren Kopf wieder gerade und legte ihn in den Nacken.
    Spencer überrollte eine Welle der Genugtuung. Er |57| schloss sekundenlang die Augen und versuchte seine Erwartungen zu dämpfen. Doch er hatte sich nicht getäuscht. Nachdem sie den Kaffee getrunken und er ihr von London, seinen Autoren und seinem Leben in Nigeria erzählt hatte, wagte er es, ihr seinen Arm um die Schulter zu legen. Als er spürte, dass sie ihn gewähren ließ, wanderte seine Hand über ihren Rücken abwärts. Sie blickte ihm verschwörerisch in die Augen.
    Eine Stunde später gingen sie gemeinsam von Bord, und Spencer konnte sich nur darüber wundern, dass er diese junge Frau in eines der hell erleuchteten, das Seeufer säumenden mondän erscheinenden Restaurants führen konnte.
    Der Speisesaal strahlte etwas Festliches aus, an der Decke hingen Kronleuchter, und Spencer glaubte plötzlich zu spüren, auf was ihr Zusammensein zusteuerte.
    Als er zur Toilette lief, vor dem verschmierten Spiegel stand und seine Hände unter dem eiskalten Wasserstrahl rieb, war er fest entschlossen, den eingeschlagenen Weg bis zum Ende zu gehen. Er schob die entsprechenden Münzen in den Automatenschlitz, drückte eine Taste, und die Schachtel fiel klappernd in den Schacht. Dabei kam er sich sekundenlang wie ein Pennäler vor, der das erste Mal mit einem Mädchen schlief.
    Zurück am Tisch erzählte er ihr, weshalb er nach Zürich gekommen war. Ihre Reaktion darauf war ein ungeniertes Grinsen. Überrascht fragte Spencer, was so amüsant daran sei, sich scheiden zu lassen.
    |58| »Gar nichts. Tut mir leid«, erwiderte sie, warmherzig lächelnd. »Ich musste nur daran denken, wie es war, als ich das erste Mal geschieden wurde.«
    Spencer sah sie irritiert an. »Das erste Mal?«
    »Ja«, erwiderte sie gelassen und griff nach ihrem Glas. »Ich bin bereits zweimal geschieden.«
    Auf einmal hatte Spencer das Gefühl, dass alle Leute sahen, dass er keinen Anspruch auf eine solche Frau hatte. Eine Frau, die auffallend schön war, zu schön für ihn. Dass er im Begriff war, sich lächerlich zu machen. Denn plötzlich kam ihm der schmerzliche Gedanke, die Leute könnten denken, sie sei seine Tochter. Doch so, als könne sie seine Gedanken lesen, sagte sie: »Was andere Leute denken, spielt keine Rolle. Komm, wir gehen zu mir!«
    Mit einer solchen Direktheit hatte er nicht gerechnet. Zugleich aber war er

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