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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, zurück gegen die Ziegel sinken. Alles Rufen war ohnehin zwecklos. Hoffmann nahm die Kappe ab und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. »Dreckskerle!«, fluchte er.
    Wie es aussah, saß er fürs Erste auf dem Dach fest. Dem Dach seines eigenen Hauses. Über seine Netzhäute huschten kleine Schatten.
    Hoffmann hatte das Haus bis vor kurzem allein bewohnt. Seine Frau war vor etwas mehr als acht Jahren gestorben, und Kinder hatten sie keine gehabt. Eigentlich war das Haus viel zu groß für eine Person. Und weil man von der Straße aus sehen konnte, dass der erste Stock unbewohnt war, waren immer wieder Anfragen gekommen. Doch Hoffmann hatte sich stets geweigert zu vermieten. Bis eines Tages diese junge dunkelhaarige Frau vor der Tür stand und Hoffmann sich auf ihre Frage, ob der erste Stock zu vermieten sei, zu seiner eigenen Verwunderung sagen hörte: »Ja, das ist er.« Sie war ziemlich hübsch, wenigstens in Hoffmanns Augen. Hübsch auf eine unaufdringliche Weise. Und obwohl sie klein und kräftig gebaut war, erschienen ihm ihre Gliedmaßen zart, war ihr Gesicht nicht breit, sondern beinahe zierlich.
    Kurz darauf war ein Möbelwagen vorgefahren, und zwei Männer in blauen Overalls hatten Tisch und Stühle, ein Bett und eine Couch, Umzugskisten, eine |104| Stehlampe und ein Cello hinauf in die Wohnung getragen. Wenn er an warmen Abenden im Garten saß und zusah, wie es dämmerte, hörte er sie spielen, Lieder voller Melancholie und Wärme. Lieder, die sie für ihn zu spielen schien.
    Erste Schweißflecke begannen sich um die aufgenähten Brusttaschen seines rot-schwarz karierten Holzfällerhemdes zu bilden. Hoffmann spähte über die Dachrinne nach unten, wo er das hellgrüne Rasenstück ausmachen konnte, dahinter, rechts und links der Buchsbaumhecke, die beiden Blautannensprösslinge, die er sich vor einigen Wochen in dem neu eröffneten Gartencenter besorgt hatte. Noch weiter rechts, ganz außen, befand sich die Blutbuche, deren Äste wieder über Olsons schwarzblau geteerte Garagenauffahrt ragten.
    Hoffmann hatte nicht den leisesten Schimmer, was er tun sollte. Mittlerweile rann ihm der Schweiß den Rücken hinab. Die Sonne begann die ockerfarbenen, stellenweise mit Moos bewachsenen Ziegel langsam aber stetig aufzuheizen. In Kürze würden die Dinger glühen.
    Den rechten Fuß gegen die verzinkte, im Sonnenlicht blinkende Auffangvorrichtung gestemmt, die verhindern sollte, dass bei Sturm oder anderem Unwetter lösende Ziegel in den Vorgarten fielen, blinzelte Hoffmann hinunter auf die Straße. Das andere Bein hielt er angewinkelt, um sich zusätzlich gegen ein mögliches Abrutschen zu schützen.
    »Hallo! Hier oben!«, rief Hoffmann. Zunächst halblaut und wie zur Probe, schließlich aber immer lauter. |105| Dabei winkte er ein paar Mal mit dem rechten Arm, obwohl ihm das vollkommen sinnlos erschien.
    Tatsächlich nahm bis auf ein kleines Mädchen niemand von ihm Notiz. Das Kind hatte ihn dort oben entdeckt und sein Winken erwidert, indem es heftig mit den Armen ruderte, während es davonlief.
    Hoffmann stellte sich vor, wie er seine alte geladene Militärpistole aus dem Keller holte, sie nacheinander auf die beiden Olson-Mistkerle richtete und abdrückte, wenn das hier alles vorbei sein würde. Plötzlich hörte er eine Stimme, eine Art verspätetes, lang gezogenes Echo seiner Rufe.
    »
Hallo
?!«, rief die Stimme.
    »Ja, hallo, hier oben!«, rief Hoffmann eifrig und richtete sich vorsichtig auf. Dabei hielt er mit der rechten Hand beharrlich einen der losen Ziegel umklammert. »Auf dem Dach! Ich bin hier oben!«
    »Hallo?«, wiederholte die Stimme. Und auf einmal begriff Hoffmann, dass es Miriam Bernheims Stimme war. Die Stimme seiner Mieterin.
    »Miriam, sind Sie das?«, rief Hoffmann. »Gott sei Dank!«
    »Ja! Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«
    »Ich denke schon«, rief Hoffmann, ließ den Ziegel los, der daraufhin polternd die Schräge hinabglitt, gegen das Fanggitter schlug und zersprang.
    Hoffmann starrte hinunter und wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. »Sie müssen mir helfen«, rief er.
    »Sagen Sie mir, was ich tun soll.« Ihre Stimme klang nah und wirkte beruhigend.
    |106| Miriam Bernheim stand am geöffneten Schlafzimmerfenster. Und wenn Hoffmann fähig gewesen wäre, sich auf dem Bauch liegend kopfüber ein Stück über die Dachtraufe hinauszuschieben, hätten sie einander in die Augen sehen können.
    »Holen Sie eine Leiter, und

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