Leichtes Beben
zurück. Erschöpft blickte er unter dem Schild seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe hinauf zum Himmel. Nicht eine einzige Wolke, die sich der Sonne in den Weg stellen konnte, war dort oben zu sehen.
Die scharfe Kante eines Dachziegels bohrte sich in seinen Nacken.
Hoffmann malte sich aus, wie sie demnächst gemeinsam ausgingen. Wie sie Seite an Seite in seinem Wagen säßen und mit offenem Verdeck an leeren Gehsteigen vorüber durch den lauwarmen, von tausend Gerüchen erfüllten Abend führen. Dabei fühlte er sich müder und müder.
Bald waren seine Arme und Beine, seine Lider und schließlich sein Kopf unendlich schwer.
Hoffmann ruckte mit letzter Kraft am Schild seiner Kappe, ignorierte die Rufe, die nun wie aus großer Ferne zu ihm heraufdrangen, schloss kraftlos die Augen und stellte sich vor, was er Miriam Bernheim sagen würde, wenn das hier alles vorbei wäre.
|110| »Sie haben mir das Leben gerettet, wissen Sie das?«, würde er sagen. »Was hätte ich bloß ohne Sie gemacht.« Oder: »Wie soll ich Ihnen jemals dafür danken?« Und Hoffmann lächelte.
Als der Feuerwehrmann ihn schließlich unsanft am Fuß packte und Hoffmann hochschreckte, dröhnte es in seinem Kopf wie in einer Blechtonne, in die haufenweise Sandsteine fielen.
Im ersten Moment starrte er seinen Retter teilnahmslos und auch ein wenig überrascht an. Doch als er begriff, dass der Andere nicht damit aufhören würde, an ihm zu zerren und zu ziehen, stützte er sich schwerfällig auf seine Ellbogen, richtete sich unsicher auf und streckte seinem Retter einen Arm hin wie ein pflichtbewusstes Kind.
Hoffmann stieg langsam die Leiter hinunter, Sprosse für Sprosse, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach rechts oder links umzusehen. Als er unversehrt unten ankam, vor seiner Haustür stand und die Kappe abnahm, hatte er das Gefühl, sehr lange fort gewesen zu sein.
Neben dem Feuerwehrmann stand diese junge Frau und lächelte ihn aufmunternd an. Doch Hoffmann nahm kaum Notiz von ihr. Er konnte nichts anderes tun, als dazustehen, ein- und auszuatmen und den Lufthauch zu genießen, der ihm durch die nassen Haare strich.
|111| Zehn
Schulz umschloss den Metallknauf mit der rechten Hand, atmete einmal ein und wieder aus, suchte den Blick seiner Frau, die aufmunternd nickte und eine Art Lächeln andeutete, und öffnete schließlich die Tür.
Der Teppichboden dämpfte das Geräusch seiner Schritte, und irgendjemand hatte die Jalousien heruntergelassen. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Doch dann sah er sie. Wie schlafend lag sie auf dem Bett, mit geschlossenen Lidern. Man hatte ihr die Hände vor der Brust gefaltet. Eine Moment lang spielte Schulz mit dem Gedanken, das Licht einzuschalten. Doch aus Rücksicht auf die Tote verwarf er diese Idee und zog stattdessen einen Stuhl heran, nahm darauf Platz und erhob mit Blick auf den Leichnam seine Stimme.
»Ich habe es getan, Mutter«, sagte er zunächst halblaut, als wolle er prüfen, wie der Satz ausgesprochen klang. Dann wiederholte er ihn lauter. Er sprach in die Stille des Zimmers hinein wie in einen großen Schalltrichter, der seine Worte bündelte und ihnen Bedeutung und eine bestimmte Richtung gab.
|112| Das grüngelb gefilterte Licht, das zwischen den Lamellen der Jalousien hereindrang, umgab die Tote, und Schulz dachte ungerührt: Sie sieht aus wie auf einem Foto. Dann sog er langsam Luft durch die Nase ein und wiederholte, nun wie ermutigt durch das widerspruchslose Schweigen: »Ich habe es getan, Mutter! Heute Morgen.« Das sachte Brummen eines vorbeifahrenden Autos war zu hören.
Wie oft habe ich wohl in diesem Zimmer gesessen?, fragte er sich, während sein Blick die Möbel abtastete. Fünfzig Mal? Hundert Mal? In einer Glasschale auf dem Büfett konnte er eine Handvoll Äpfel ausmachen, die ebenso aus Stein sein konnten. Hart und spröde wie der Leib der Toten. Und plötzlich dachte er, so, als habe seine Fähigkeit, riechen zu können, eben erst wieder eingesetzt: Woher kommt bloß dieser eklige Geruch?
Er schnupperte einmal, zweimal irritiert, dann fiel sein Blick auf den Duftspender, der auf dem Fensterbrett stand. Eine weiße Sprühflasche, die offenbar von einer der Betreuerinnen kurz zuvor betätigt und anschließend gedankenlos dort hingestellt worden war. Bestimmt, um den Geruch des Todes zu vertreiben, dachte Schulz. Dabei hatte er nicht die leiseste Ahnung, ob frisch Verstorbene bereits nach Verwesung rochen.
Er musste ein
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