Leichtes Beben
paar Mal leer schlucken, um den Würgereiz, den der Geruch bei ihm erzeugte, zu unterdrücken. Dann wandte er seinen Blick wieder dem vor ihm aufgebahrten Leichnam seiner Mutter zu, weil er das Gefühl hatte, ihr zumindest in diesen Minuten |113| Andacht zu schulden. Sie hatten sich nie besonders gut verstanden, Schulz und seine Mutter.
Selbst noch, als er das erste Mal geheiratet hatte, litt er darunter, wie unverhohlen sie ihre gesamte Liebe auf seinen jüngeren Bruder richtete. Und auch als sie krank wurde und Schulz, wann immer es seine Zeit als Handelsvertreter zuließ, an ihr Krankenlager geeilt war, hatte sie ihm Loblieder auf seinen Bruder gesungen. Und nun war sie tot und ihre Liebe für seinen Bruder zu Ende.
Schulz betrachtete sie von seinem Platz aus wie ein fremdartiges Insekt, interessiert, aber auch irgendwie abgestoßen. Der Tod hatte alles Persönliche getilgt.
Wenn ich sie so anblicke, dachte er, erkenne ich sie kaum noch. Man sieht überhaupt nicht mehr, was für ein ungerechter Mensch sie einmal war. Und zum ersten Mal in seinem Leben konnte er sie endlich ohne Schuldgefühle so sehen, wie er sie zuletzt nur noch wahrgenommen hatte: als jemanden, der ihn nichts mehr anging. Und um seinen Triumph zu feiern, zog er seine Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an. Dann sagte er mit einem Gefühl leiser Freude: »Ich habe Vaters Laden verkauft!«
Schulz genoss den kleinen Schwindel, den das Nikotin in seinem Gehirn erzeugte. Er blickte sich wieder im Zimmer um, und dass er am Totenbett seiner Mutter ohne die geringsten Schuldgefühle rauchte, steigerte noch seine Beschwingtheit, sodass er mit seinem Mund kleine Ringe und Kreise aus dem Rauch formte. Die Asche, die er in grauen Röllchen in seine zur Kuhle geformte Hand fallen ließ, beförderte er in |114| den emaillierten Übertopf der Yuccapalme, die neben dem Fernseher stand. Zuletzt auch den Stummel seiner Zigarette. Und dann tat er, vielleicht aus Übermut, vielleicht, weil er glaubte, der Situation mehr als gewachsen zu sein, Folgendes: Er fuhr seinen rechten Arm aus und legte seine Hand auf die Stirn seiner Mutter, ließ sie einige Sekunden dort liegen und zog sie ruckartig wieder weg. Denn ihm war, als hätte die Kälte des Todes augenblicklich von seiner Hand Besitz ergriffen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief er aus dem Zimmer, hinaus auf den Flur, wo seine Frau die ganze Zeit über auf ihn gewartet hatte.
»Was war denn?«, fragte sie und sah ihn prüfend an.
»Es war …«, sagte Schulz und hielt seine zitternde Hand von sich gestreckt, »… ihre Stirn«, sagte er, »ihre Stirn war eiskalt.«
»Du hast sie doch nicht etwa berührt?«, sagte seine Frau.
»Doch, hab ich«, antwortete Schulz. »Ich dachte, ich …« Dabei starrte er entgeistert auf seine Hand.
Doch statt ihn zu trösten, sagte seine Frau: »Das hättest du nicht tun sollen.«
Noch immer konnte er nicht sagen, was er damit bezweckt hatte. Da war dieser plötzliche Impuls gewesen, der sich aus seinem Innern in seinen Arm fortgepflanzt hatte. Bis er in seinen Fingerspitzen angekommen war und es kein Zurück mehr gab.
»Ich weiß«, sagte Schulz, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte. Und er hätte noch viel mehr sagen wollen. Denn da war noch etwas anderes gewesen, etwas, das über die kalte Stirn seiner Mutter hinausging. |115| Und das ihm plötzlich große Angst gemacht hatte. Doch davon konnte er nicht sprechen. Stattdessen fragte er: »Meinst du, er ist giftig?«
Seine Frau sah ihn irritiert an. »Wen meinst du?«
»Den Tod«, sagte Schulz und spürte im selben Moment, wie dumm seine Worte klangen.
»Unsinn«, sagte seine Frau. »Wie kommst du denn auf so was?«
»Ich muss mir die Hände waschen«, sagte Schulz und lief am Pförtner vorbei zur Gästetoilette, deren Tür er mit dem Ellbogen aufstieß.
Er schob seine Hand unter den über dem Waschbecken angebrachten Seifenspender und beförderte per Knopfdruck einen rosafarbenen Klecks süßlich riechender Lotion auf seine leicht zitternde Handfläche. Anschließend rieb er seine Hände minutenlang unter laufendem Wasser gegeneinander und nahm erneut von der Waschlotion. Wieder und wieder.
»Andreas!«, hörte er irgendwann von draußen die Stimme seiner Frau.
»Ich komme«, antwortete er erschöpft und riss mehrere der spröden grünen Papiertücher aus dem Behälter an der Wand, mit denen er sich flüchtig abtrocknete.
Schulz war im Begriff, die Tür zu öffnen, als er sich die gerötete
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