Leichtes Beben
stirbt, stimmt’s?«, hatte Ludwig mit hasserfüllter Stimme zu ihm gesagt. Und als sein Vater tatsächlich zwei Monate später seinem Krebsleiden erlag, wäre es fast zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen gekommen.
Schon als Schüler musste Bronnen manchmal überlegen, wenn er gefragt wurde, ob er Geschwister habe. Und nach dem Abitur waren er und Ludwig sofort getrennte Wege gegangen. Als ihre Mutter noch gelebt und der Vater noch gearbeitet hatte, waren Bronnen und sein Bruder sich regelmäßig in ihrem Elternhaus begegnet. Doch als bei der Mutter erste Anzeichen von Alzheimer auftraten, schlug sich Ludwig, der von jeher Schwierigkeiten mit Krankheiten hatte, auf die Seite des damals noch gesunden Vaters und überließ seinen Bruder die Betreuung und Versorgung der Mutter.
Es hatte damit begonnen, dass sie Termine, Verabredungen |160| und Namen vergaß. Bis sie vergaß, dass sie etwas vergessen hatte, und ihr die einfachsten Dinge nicht mehr einfielen. Zuletzt stand sie in ihrer Küche und dachte: Wo bin ich? Sie fing an, ihr vertraute Gesichter nicht mehr zu erkennen, bis sie auch Bronnen und seinen Bruder verlor. Sie hörten auf, für sie zu existieren.
Bei der Beerdigung ihrer Mutter hatten Bronnen und sein Bruder sich kurz die Hand gegeben. Beim anschließenden Gang der kleinen Trauergemeinde in ein nahes Café war Ludwig nicht von der Seite des Vaters gewichen. Als Chris, die zur Beerdigung ihrer Großmutter aus Italien angereist war, plötzlich mit einem schwarzen Kostüm bekleidet vor ihm stand und ihm zur Begrüßung lächelnd die Hand hinhielt, hatte Bronnen seinen Augen nicht getraut. Denn aus der schon früher ansehnlichen Abiturientin war eine überaus attraktive Frau geworden, die ihr Haar allerdings anders als damals trug, nämlich schwarz gefärbt. Eine Spur von Reife, die sich in ihrem Gesicht erkennen ließ, machte sie noch hübscher als früher.
»Hallo, Onkel Klaus!«, hatte sie gesagt und sich dabei lässig eine Haarsträhne hinters Ohr gestrichen. Ihre grünen Augen hatten gestrahlt und Bronnen einen Moment lang um Fassung ringen lassen. Zudem war ihm diese Anrede plötzlich seltsam unpassend vorgekommen, »Onkel Klaus«. Denn genau betrachtet trennten sie ja gerade mal sechzehn Jahre. Und wären sie einander in einem anderen Zusammenhang begegnet, als zwei Fremde, so wäre vielleicht sogar etwas zwischen ihnen möglich gewesen. Das hatte Bronnen |161| damals jedenfalls spontan gedacht, als Chris vor ihm stand und ihn auf so eine irritierend offene Weise ansah.
Hinterher im Café hatten sie nebeneinandergesessen und sich lange unterhalten. Ein paar Mal hatte Bronnen den Wunsch unterdrücken müssen, sie zu berühren und nach ihrer Hand zu greifen.
Als die Trauergemeinde sich, bis auf Bronnens Vater und seinen Bruder, aufgelöst hatte, unterhielten sie sich immer noch. Erst als Ludwig seine Tochter nach mehrmaliger Bitte, mit ihm zu kommen, unmissverständlich ansah, erhob sie sich und sagte, wobei sie lange Bronnens Hand hielt: »Sehen wir uns noch mal, solange ich noch hier bin, Onkel Klaus?« Ludwig hatte sich einen Kommentar versagt.
Am nächsten Tag hatte Bronnen mit dem Gedanken gespielt, Chris anzurufen. Doch jedes Mal, wenn er den Telefonhörer in die Hand nahm, um die Nummer seines Bruders zu wählen, legte er nach wenigen Sekunden wieder auf. Dabei hatte er seit der Beerdigung seiner Mutter immer wieder an sie gedacht: eine sechzehn Jahre jüngere Frau, die noch dazu die Stieftochter seines Bruders war.
Bronnen eilte mit seiner Mappe unter dem Arm an den Geschäften vorüber, überquerte Kreuzungen und lief auf der Hauptstraße zurück. Als er das Starbucks
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Café erreicht hatte, war die junge Frau, die er für seine Nichte gehalten hatte, verschwunden. Enttäuscht hielt er nach ihr Ausschau und betrat schließlich das Café.
Es lief Musik, Bob Dylans »She Belongs to Me«
.
Und da sah er sie. Sie saß mit dem Rücken zu ihm in |162| einem der ausladenden hellbraunen Ledersessel und hielt einen Kaffeebecher in der Hand.
»Chris!«, sagte er und trat näher an sie heran. Doch sie reagierte nicht. Da legte er ihr eine Hand auf die Schulter und wiederholte: »Hallo, Chris! Du bist es doch, nicht wahr?«
Ganz langsam drehte sie den Kopf und starrte ihn an. »Was wollen Sie von mir?« Dabei hielt sie nun mit beiden Händen den Kaffeebecher umschlossen.
»Aber Chris, erkennst du mich denn nicht?«, sagte Bronnen. Zugleich beschlichen ihn erste Zweifel. Konnte sie sich so sehr
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