Leichtes Beben
sind aber nicht mein Freund! Raus, aber sofort!«, rief die Fahrerin.
»Aber was habe ich denn …«, stammelte Hagedorn. »Ich wollte Ihnen doch nur …«
»Aussteigen, na los!«, wiederholte sie grimmig, streckte sich und öffnete mit einem Griff nach hinten seine Tür.
»Es tut mir leid, also ich wollte wirklich nicht …«, wiederholte er. Dann nahm er seinen Mantel, stieß die Tür ganz auf und stieg aus dem Wagen. Im selben Moment zog die Frau die Tür von innen wieder zu, ließ den Motor aufheulen und fuhr davon.
»Blöde Kuh!«, schnaubte Hagedorn und blickte dem Wagen entgeistert nach. Dann zog er seinen Mantel über, schlug den Kragen hoch und setzte sich schwerfällig in Bewegung.
|153| Er ging auf die nahegelegene Kreuzung zu und hielt nach einem Taxistand Ausschau, als neben ihm das Taxi hielt. Die Fahrerin kurbelte die Scheibe herunter und sagte: »Es tut mir leid, das war blöd von mir. Bitte steigen Sie wieder ein!«
Hagedorn trat einen Schritt näher und beugte sich zu ihr. »Damit Sie mich an der nächsten Ecke wieder rausschmeißen? Nein, danke. Da gehe ich lieber zu Fuß!« Mit großer Geste machte er eine Bewegung, als setze er sich in Gang.
»Nun kommen Sie schon!«, drängte die Fahrerin und stieß die Beifahrertür auf. Hagedorn zögerte einen Moment, stieg aber schließlich doch wieder zu ihr in den Wagen. Und nachdem er den Sicherheitsgurt angelegt hatte, sagte sie: »Ich kenne einen Laden, nicht weit von hier, da kriegt man um die Uhrzeit noch was zu trinken. Haben Sie Lust?«
Hagedorn atmete gravitätisch ein und wieder aus, so, wie er es tat, wenn er zu einem seiner legendären Monologe ansetzte. Dann sagte er: »Also von mir aus.«
Als sie die Bar gegen kurz nach sechs verließen und in den Wagen stiegen, lag der Parkplatz bereits klar erkennbar unter den noch immer brennenden hohen Lampen.
»Ich kann manchmal ein ziemliches Ekel sein, nicht wahr?«, sagte Hagedorn und klappte die Sonnenblende runter.
»Stimmt«, sagte die Fahrerin. »Zum Davonfahren.«
»Ich war nicht immer so, glauben Sie mir«, erwiderte Hagedorn und klappte die Blende ärgerlich |154| wieder hoch, weil er den Anblick seines müden alten Gesichts in dem kleinen Spiegel nicht ertrug. »Früher muss ich sogar mal ein ziemlich netter Bursche gewesen sein.«
»So?«
»Doch als ich dann Schauspieler wurde, wovon ich immer geträumt hatte, hatte ich plötzlich das Gefühl, mir ein Image zulegen und mich unnahbar geben zu müssen, um ernst genommen zu werden. Als ich dann später versuchte, wieder so wie früher zu sein, ging das nicht mehr. Anfangs machte mir das kaum was aus, denn ich hatte Erfolg mit meiner Masche. Bis ich mir irgendwann wie der Schauspieler in diesem Witz vorkam, der einem Freund begegnet, der zu ihm sagt:›Du, ich hab dich gestern im Supermarkt gesehen!‹, worauf der Schauspieler antwortet: ›Und? Wie war ich?‹«
»Verstehe!«, sagte die Fahrerin.
»Wirklich?«, sagte Hagedorn.
»Ja«, sagte die Fahrerin. »Denn wie es einem wirklich geht, das will niemand wissen.« Und dann erzählte sie ihm von der Sache mit ihrem Sohn.
»Wann ist das passiert?«, fragte Hagedorn.
»Vor nicht mal einem Jahr«, antwortete sie und zerdrückte die leere Zigarettenschachtel, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Ich habe damals gedacht, mein Leben ist zu Ende, als Robin starb.«
»Das habe ich kürzlich auch gedacht«, sagte Hagedorn halblaut. Dabei sah er sich wieder im Sprechzimmer seines Hausarztes sitzen, vor sich das Ergebnis des Bluttests, das nun offiziell bestätigte, was er seit dem Tod seines jungen Freundes befürchtet hatte.
|155| »Wie alt ist Ihr Junge denn gewesen?«, fragte Hagedorn nun lauter.
»Sieben«, antwortete sie, kurbelte das Fenster herunter und warf die zerdrückte Schachtel hinaus.
»Sieben? Mein Gott!«
Die Ausfahrt des Parkplatzes führte auf eine bereits stärker befahrene Seitenstraße. Der Himmel rötete sich von Osten her und kündigte einen schönen Tag an. Doch die meisten Pendler fuhren noch mit eingeschalteten Scheinwerfern.
Als es auf die Stadtautobahn ging, sagte Hagedorn leise: »Guten Morgen, Robin!« Daraufhin suchte die Fahrerin seinen Blick im Rückspiegel, steuerte den Wagen lächelnd der aufgehenden Sonne entgegen und sagte: »Guten Morgen, Robin! Guten Morgen!«
|156| Fünfzehn
Bronnen saß in der Straßenbahn Nummer 5 und überflog die Überschriften der Zeitung, die er aus dem Briefkasten gezogen und mitgenommen hatte. Er war
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