Leichtes Beben
Chris!«
»Chris?«, antwortete Bronnen überrascht.
»Ja, warum nicht?«, sagte sie und schien Gefallen an ihrer Idee zu finden. Sekundenlang verengten sich ihre grünen Augen katzenhaft. »Sie haben gedacht, ich sei ihre Nichte Chris, also nennen Sie mich ruhig so!«
In Bronnens Kopf ging plötzlich alles durcheinander. Er starrte auf den Teller mit den dampfenden Nudeln, neben den die Bedienung eine Schale mit geriebenem Parmesankäse gestellt hatte. Vor ihr standen safrangelbe Spaghetti, auf denen aufgesprungene Miesmuscheln feucht glänzten.
Plötzlich bemerkte Bronnen, dass ein Blütenblatt des kleines Straußes, der zur Dekoration in der Mitte des Tisches in einer Vase stand, in sein Weinglas gefallen war und auf seinem Rotwein schwamm.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, denn offenbar hatte sie Bronnens plötzliche Verwirrung bemerkt.
»Äh, ja, ja«, antwortete er und angelte so lange ungeschickt |166| mit Daumen und Zeigefinger nach dem Blütenblatt, bis die Tischdecke rundherum mit winzigen auberginefarbenen Flecken gesprenkelt war. Irritiert blickte er auf die Flecken und musste dabei an die blutrot verschmierte Scheibe des Zuges denken.
»Ach, verdammt!«, zischte Bronnen. Schließlich bekam er das Blatt aber zu fassen, zog es heraus und legte es an den Rand seines Tellers.
Er suchte ihren Blick. Doch sie war ganz damit beschäftigt, ihre Miesmuscheln auszunehmen und andächtig zu essen.
»Schmeckt es Ihnen?«, fragte er und schob seine Gabel nun widerwillig in den hellroten Nudelberg, auf dem kleine Fettaugen glänzten.
»Ja, ist okay!«, sagte sie und griff nach ihrem Rotweinglas.
Nachdem sie das Essen wortlos beendet hatten, sah Bronnen sie an und sagte: »Wie wär’s mit einem Dessert? Die machen hier eine wirklich tolle Zabaione …«
»…
Chris
!«, ergänzte sie.
»Wie bitte?«
»Sie sollen sagen: Die machen hier eine wirklich tolle Zabaione,
Chris!
«
»Also gut!« Bronnen holte demonstrativ Luft und wiederholte übertrieben deutlich: »Die machen hier eine wirklich tolle Zabaione,
Chris
!«
»Schon besser!«, sagte sie, und füllte ihr Glas noch einmal bis zur Hälfte. Und nachdem sie sich den Mund ein letztes Mal mit ihrer Serviette abgewischt, sie zu einer Kugel gedreht und auf ihren Teller gelegt hatte, sah sie ihn durchdringend an, griff nach ihrem |167| Glas und sagte: »Erzählen Sie mir von Ihrer Nichte. Was ist sie für ein Mensch?«
»Nun«, sagte Bronnen, trank einen Schluck Wein und überlegte kurz. »Sie ist eine wundervolle Person. Intelligent, lebenslustig und zugleich alles andere als oberflächlich. Wir können sehr gut miteinander reden, und ich hätte sie gerne häufiger gesehen. Zuletzt hatte ich das Gefühl, dass auch sie gerne mehr Zeit mit mir verbracht hätte. Aber ich kann natürlich nicht für sie sprechen. Immerhin ist mein Bruder ihr Stiefvater, und da ist es nicht so einfach, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Was ist nicht so einfach?«, fragte sie und fixierte ihn ganz ruhig.
»Na ja«, wand sich Bronnen. »Sich füreinander zu interessieren, ohne dass ein falscher Eindruck entsteht, na, Sie wissen schon. Schließlich bin ich sechzehn Jahre älter als Chris.«
»Spielt denn das Alter eine Rolle, wenn man einander etwas zu sagen hat?«
»Natürlich nicht«, pflichtete Bronnen ihr bei und griff mechanisch nach seiner Serviette. »Aber Sie wissen doch, wie das ist, wenn sich ein älterer Mann für eine sechzehn Jahre jüngere Frau interessiert. Da heißt es gleich: Was will denn dieser alte Sack von so einer Jungen? Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass in unserem Fall verwandtschaftliche Beziehungen bestehen.«
Sie trank einen Schluck, stellte nachdenklich ihr Glas wieder ab und sagte: »Sie haben sich in sie verliebt, nicht wahr?«
|168| Bronnen fühlte sich ertappt, umfasste die Armlehnen seines Stuhls und rutschte auf seinem Platz hin und her. »Verliebt, verliebt«, antwortete er. »Was heißt denn das schon? Heutzutage verliebt sich doch dauernd irgendwer in irgendwen! Aber es stimmt. Ja. Ich hab mich beim letzten Mal wohl ein wenig in sie verliebt.«
»Sie brauchen sich überhaupt nicht für Ihre Gefühle rechtfertigen«, sagte sie und lächelte.
»Hab ich doch gar nicht!«, erwiderte Bronnen energisch.
»Doch, das haben Sie!«
»Na, wie Sie meinen.« Bronnen bat die Bedienung um die Rechnung.
Da griff sie nach seiner auf dem Tisch liegenden Hand: »Sagen Sie noch einmal
Chris
zu mir! Bitte!«
Bronnen entzog ihr vorsichtig
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