Leichtes Beben
auf dem Weg zu einem Kunden in Stuttgart. Am Hauptbahnhof würde er in einen der Fernzüge umsteigen.
Er blätterte den Wirtschaftsteil durch, anschließend las er die Sportnachrichten und blieb bei einem Artikel über einen behinderten Kurzstreckensprinter hängen.
Der Mann, dessen beide Füße amputiert worden waren, hatte dadurch Aufsehen erregt, dass er mit seinen Fußprothesen bei einem hochkarätig besetzten Wettkampfmeeting schneller als die gesunden Sprinter gelaufen war. Daraufhin hatten die Trainer der anderen Läufer gefordert, man solle ihn zukünftig von internationalen Wettkämpfen ausschließen, um Wettbewerbsverzerrung zu verhindern.
Bronnen war gebannt von der Geschichte des Sprinters und achtete nicht darauf, wer neben ihm saß. Leute stiegen ein und aus. Und kaum hatte man das Gesicht seines Nachbarn wahrgenommen, war es |157| auch schon wieder verschwunden. Doch seit ein paar Minuten ließ der Junge, der ihm gegenübersaß, ihn nicht mehr aus den Augen.
Zunächst versuchte Bronnen, den Jungen einfach zu ignorieren und sich auf den Artikel zu konzentrieren. Doch als ihm dessen Starren zu viel wurde, nahm er die Zeitung herunter und sagte: »Ist was?«
»Nein, wieso?«, antwortete der Junge.
»Weil du mich unentwegt so anstarrst«, sagte Bronnen. Im selben Moment kam die Bahn ruckartig zum Stehen, der Junge erhob sich und stieg aus.
Seit der Sache mit dem Regionalexpress, der wenige Tage zuvor wegen des Erdbebens mit einem wie aus dem Nichts herannahenden Pferd kollidiert war, fühlte Bronnen neuerdings eine gewisse Beklemmung, wenn er morgens in die Straßenbahn stieg. Und wenn er sekundenlang die Augen schloss, sah er sogleich wieder die grölenden, mit leuchtend roten Sicherheitsanzügen bekleideten Männer vor sich.
Bronnen war erst gegen Abend zu dem Klassentreffen erschienen und hatte den verschiedenen Tischrunden die Sache mit dem Pferd erzählen müssen. Gegen Mitternacht, als er bereits angetrunken war und sich in dem Restaurant wieder die alten Grüppchen wie zu Schulzeiten gebildet hatten, sagte er zu Frank Morshäuser, mit dem er während des letzten Schuljahrs ein paar Mal spätnachts in schummrigen Clubs herumgesessen hatte: »Weißt du noch, die Hübner und ihre eng sitzenden Klamotten?«
Bis zum Bahnhof waren es noch zwei Stationen. Bronnen verstaute die Zeitung in seiner Aktentasche |158| und blickte aus dem Fenster. Und da sah er sie. Zumindest glaubte er, dass sie es war: Christine, die Stieftochter seines Bruders.
Sie saß neben einem Starbucks-Café an eine Hauswand gelehnt auf einem Stück Pappe. Vor ihr auf dem Boden stand ein brauner Pappbecher, in den die Passanten Geld werfen sollten. Neben ihr ein Rucksack.
Dann glitt die Bahn weiter. Ja, das musste Chris gewesen sein! Aber wie war das möglich? War sie denn nicht mehr in Italien?
Mit klopfendem Herzen sprang er auf und drückte mehrmals den Halteknopf. Doch die Türen blieben natürlich geschlossen. »Halt!«, rief er trotzdem und blickte in die erstaunten Gesichter der anderen Fahrgäste. An der nächsten Haltestelle stieg er aus und lief zurück. Doch sofort kamen ihm Zweifel. Er dachte: Chris eine Bettlerin? Vollkommen unmöglich!
Nach dem Tod seines Vaters hatte er ein paar Mal geglaubt, ihn in einem vorbeifahrenden Auto gesehen zu haben, und war erschrocken. Doch das war natürlich Unsinn, denn er hatte ja mit eigenen Augen gesehen, wie man seinen Sarg in die dunkle Erde hinabgelassen hatte. Trotzdem kam ihm immer mal wieder der Gedanke, sein Vater könne seinen Tod vorgetäuscht haben, untergetaucht sein und in einer anderen Stadt unter anderem Namen ein neues Leben führen. Und ihm gefiel die Vorstellung, dass man woanders, fernab seines alten Lebens, eine andere, geheime Existenz führte, sodass plötzlich Dinge möglich waren, die bis dahin undenkbar schienen.
|159| Zuletzt hatte Chris in Bologna Romanistik studiert und den Kontakt zu ihrem Vater ebenso abgebrochen wie Bronnen, der seit dem Tod seines Vaters Ludwig konsequent aus dem Weg ging. Dass sie Brüder waren, ließ sich nicht ändern. Doch wenn im Gespräch mit Freunden Ludwigs Name fiel, verstummte er. Und wenn er an ihn dachte, was selten genug vorkam, schob er den Gedanken beiseite.
Ludwig hatte ihm damals verübelt, dass er seinen geschwächten und kahlköpfigen Vater in seiner Entscheidung bestärkt hatte, keine vierte Chemotherapie mehr auf sich zu nehmen, nachdem die letzte kaum noch Wirkungen gezeigt hatte.
»Du willst, dass er
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