Leichtes Beben
verändert haben seit ihrer letzten Begegnung? Denn das Leuchten, das ihn damals so beeindruckt hatte, war vollkommen aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihre Hände waren dreckig und ihre Finger braun vom Nikotin. Ihre Kleidung machte einen verwahrlosten Eindruck. Nur die Frisur war noch die gleiche. Aber womöglich hatte er sich ja tatsächlich getäuscht, und die Person, die da vor ihm saß, war jemand ganz anderes. Trotzdem war da immer noch diese frappierende Ähnlichkeit.
»Ich kenne keine Chris«, sagte die Frau und wandte sich um. Sie stellte den Becher vor sich auf dem Tisch ab und griff nach dem neben ihr auf dem Boden stehenden Rucksack.
»Aber das ist doch nicht möglich!«, sagte Bronnen und ließ sich in den ihr gegenüberstehenden Sessel sinken. »Was ist denn passiert seit unserem letzten Treffen? Und seit wann bist du nicht mehr in Italien?«
Ohne zu antworten, erhob sie sich und griff nach dem Rucksack.
|163| »Nein, bitte bleiben Sie!«, sagte Bronnen, erhob sich ebenfalls und berührte ihren Arm. Da sah sie ihn mit festem Blick an und sagte: »Was wollen Sie denn von dieser Chris?«
»Was ich von ihr will? Sie ist meine Nichte!«
»Da kann ich Ihnen leider nicht helfen«, antwortete sie nach kurzer Überlegung trotzig und machte einen Schritt zur Seite.
»Bitte, setzen Sie sicher wieder«, sagte Bronnen und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. »Sie haben Ihren Kaffee ja noch gar nicht getrunken. Und es wäre doch schade, ihn einfach stehen zu lassen. Schließlich haben Sie dafür bezahlt.«
»Ist doch egal!«, sagte sie, setzte aber ihren Rucksack auf der breiten Lehne des Sessels ab und nahm auch wieder Platz. »Okay, und was nun?«
»Jetzt sagen Sie mir doch bitte, wie Sie heißen«, sagte Bronnen und sah sie erwartungsvoll an.
»Was spielt das denn für eine Rolle?«, antwortete sie und griff nach dem Kaffeebecher. »Ich bin nicht diese Chris, und ich kenne auch niemanden, der so heißt, okay?«
»Aber wer sind Sie dann?«
»Finden Sie’s heraus!«, antwortete sie, und Bronnen meinte dabei den Anflug eines Lächelns auf ihrem eben noch reglosen Gesicht zu entdecken. Er überlegte kurz, dann sagte er den Geschäftstermin in Stuttgart ab. Während er telefonierte, beobachtete er sie und spürte, wie ihm die Erinnerung an das letzte Treffen mit seiner Nichte plötzlich einen Stich versetzte. Und etwas in ihm weigerte sich zu glauben, dass die Person, |164| die keinen Meter von ihm entfernt in ihrem Sessel saß und in kleinen Schlucken ihren Kaffee trank, nicht Chris sein sollte.
Nachdem er sein Telefonat beendet hatte, sah er sie an und sagte: »Was halten Sie von einem frühen Mittagessen? Es gibt ein kleines Restaurant ganz in der Nähe, wo man um diese Zeit bereits etwas bekommt.«
»Sie wollen mich zum Essen einladen?«
»Ja, was dagegen?«
»Nein, von mir aus!«
Keine zehn Minuten später saßen sie einander in dem von Bronnen beschriebenen Restaurant gegenüber. Es lief italienische Musik, und aus der Küche strömten allerlei verlockende Gerüche herein.
Während sie die Speisekarte studierte, betrachtete Bronnen ihre ramponierten Hände. Und erneut dachte er: Ich könnte schwören, dass das Chris’ Hände sind.
Nachdem sie bestellt hatten und mit Rotwein gefüllte Gläser vor ihnen standen, sagte Bronnen: »Weshalb betteln Sie?«
»Das tue ich nicht!«, antwortete sie prompt und trank den Inhalt ihres Glases auf einen Zug.
»Doch, das tun Sie«, sagte Bronnen und spielte mit dem rot-weiß karierten Stoffset, auf dem sein Besteck und die weiße Serviette lagen. »Ich habe Sie gesehen.«
»Blödsinn!«
»Sie haben auf einem Stück Pappe gesessen und einen Kaffeebecher vor sich stehen gehabt.«
»Was geht Sie das an?«, antwortete sie bissig. Dabei schob sie ihren Stuhl ein Stück zurück, als wolle sie im nächsten Moment aufstehen und verschwinden.
|165| »Ich wollte Sie mit meiner Frage nicht kränken oder aushorchen, glauben Sie mir«, sagte Bronnen. »Aber es hat mich einfach interessiert. Zumal ich sicher war, dass Sie meine Nichte sind.« Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, sagte er: »Verraten Sie mir jetzt wenigstens Ihren Namen?«
»Was spielt es denn für eine Rolle, wie ich heiße?«, antwortete sie, während sie beobachtete, wie Bronnen ihr Glas nachfüllte. »Ich habe schon vor längerer Zeit aufgehört, die zu sein, die ich einmal war. Die gibt es nicht mehr. Und ihren Namen auch nicht. Also nennen Sie mich, wie Sie wollen! Von mir aus auch
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