Leichtmatrosen küsst man nicht - Roman
denn? Machte es sie quasi zur Halbitalienerin, dass sie in dieser herrlichen Stadt gezeugt wurde? Italienischer als Frankie, die in Sheffield geboren war?
Sie setzte sich auf einen der blass goldenen Clubsessel. Die Möbel sahen schrecklich alt aus, aber sehr gepflegt. Alles fügte sich so harmonisch in die Umgebung, dass man meinen könnte, das Hotel wäre um sie herum gebaut worden. Auf einmal fröstelte Ven, denn ihr war, als würde ihre Welt zu nahe an die rücken, in der ihre Eltern jetzt waren, als hätten sich die dünnen Häute zwischen ihnen gestreift. Sie schüttelte den Kopf, um die Gefühle zu verjagen, die sich in ihr regten. Natürlich war es ein alberner Gedanke, denn wer einmal tot war, war tot. Sie wünschte, dass sie an einen Himmel glauben könnte, doch das tat sie nicht. Es gab keine Geister, kein Leben nach dem Tod oder so etwas wie eine Wiedergeburt. Mal ehrlich: In jeder Sendung, die Ven bisher über Reinkarnation gesehen hatte, kam irgendeine Schnepfe vor, die »im früheren Leben« eine ägyptische Priesterin gewesen war. Schade um die Zeiten, in denen Ven vor lauter Vorfreude auf den Weihnachtsmann oder die Zahnfee nicht einschlafen konnte. Doch nach den Ereignissen der letzten paar Jahre hatte Ven endgültig die Fähigkeit verloren, auf so etwas wie Magie zu warten. Sie hätte wahrlich dringend ein bisschen Zauber und Hilfe von höheren Mächten gebrauchen können, aber dieser Luxus war ihr verwehrt.
Venice warf einen letzten Blick auf die Stuckwände, die dunklen Porträts in den schweren Goldrahmen, die Sessel und die Glastische mit den fein gedrechselten Beinen, die schöne, freundliche Empfangsdame und die Aussicht aus den Fenstern.
»Grazie, signorina« , sagte sie.
»Prego« , antwortete die Empfangsdame lächelnd.
Ven ging hinaus, zurück in die Sonne und die reale Welt. Ihre Erinnerung hatte sie, konnte sie mit nach Hause nehmen und in Ehren halten. Eigentlich war es mehr als eine Erinnerung, denn da war auch noch die an den liebenswerten Nigel, der sie aus einer Traurigkeit rettete, die sie nicht vorausgeahnt hatte. Könnte er doch in Zukunft jedes Mal aus dem Nichts erscheinen, wenn sie sich einsam fühlte, und sie mit Eis und Kaffee verwöhnen. Ja, klar, sehr wahrscheinlich, Venice Smith!
Nun blühte ihr die Rückkehr zum Schiff und ein Verhör von den drei anderen, was sie mit einem hübschen Captain in einer Eisdiele machte, wo sie doch angeblich auf Hotelsuche war.
48. Kapitel
Nigel erwartete die vier Frauen bei ihrer Ankunft im Empfangsbereich des Schiffes um halb fünf. Er trug wieder seine Uniform. Ven musste sich ein wohliges Summen verkneifen. Gegen diese Uniform war die unechte aus der Stripper-Garderobe ihres Ex ein schäbiger, billiger Fummel. Prompt hatte sie eine Vision, wie Nigel zum Titelsong von »Ganz oder gar nicht« strippte, und musste sich im Geiste streng zur Ordnung rufen. Der Dresscode für abends war lässig-elegant gewesen, jedoch hatten die vier Freundinnen ihn wegen Vens Geburtstag auf elegante Abendgarderobe heraufgesetzt und trugen lange Kleider.
Wie Ven schon vorausgesehen hatte, quetschten die anderen sie aus, als sie wieder an Bord kam, und Ven war gezwungen, ihnen sämtliche Einzelheiten zu berichten, bis hin zu der Sauce auf ihrem Eisbecher.
»Diesen italienische Satz, den du mir beigebracht hast, hätte hier übrigens keiner verstanden«, sagte Ven und wunderte sich, dass Frankie so große Augen machte. »Anscheinend ist der venezianische Dialekt sehr eigen und ganz anders als im restlichen Italien.«
»Aha. Wer hat dir das gesagt?«, fragte Frankie.
»Nigel. Er hat gesagt, dass er für mich nach dem Weg zum Hotel fragt. Er spricht fließend Italienisch und Venezianisch.«
»Hast du … hast du deinen italienischen Satz an ihm ausprobiert?« Frankie gab sich redliche Mühe, unschuldig dreinzublicken.
»Habe ich«, antwortete Ven stolz. »Und ich glaube, dass er insgeheim von meinem Akzent beeindruckt war.«
»Ich danke dir, Gott«, sagte Frankie lautlos, als Ven ihr den Rücken zukehrte. Der allzeit ritterliche Captain stieg noch höher in ihrer Wertschätzung.
Eric, Irene, Royston und Stella gesellten sich fünf Minuten später zu ihnen, gleichfalls zum Dinner umgekleidet, da es nach dem Auslaufen aus dem Canale Grande nicht lange dauern würde, bis der Restaurantgong ertönte. Sie brachten Ven Glückwunschkarten mit, und Stella hatte ihr eine pinkfarbene Maske in Venedig gekauft. Sie plapperten wie aufgeregte Schulkinder
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