Leichtmatrosen küsst man nicht - Roman
auf einem Ausflug, denn es war für alle das erste Mal, dass sie auf die Brücke eingeladen waren.
Sie fuhren mit dem Lift hinauf zum Deck zwölf, von wo aus sie durch eine »Personal«-Tür und einen langen Korridor gingen. Nigel zog eine Vorhangtür zurück, so dass sie einen Blick in sein Büro werfen konnten. Danach stiegen sie eine steile Metalltreppe nach oben und schritten noch einen schmalen Korridor entlang bis zu einer Sicherheitstür. Hinter ihr war die Brücke, die völlig anders aussah, als es sich irgendeiner von ihnen vorgestellt hatte.
Abgesehen von einer Reihe Telefonen und Computern vorn in der Mitte, vor der zwei Offiziere mit dem venezianischen Lotsen saßen und Tee tranken, war der Raum erstaunlich leer. Der Lotse half, das mächtige Schiff aus dem Canale Grande hinaus auf offene See zu lenken, ohne selbst die Steuerinstrumente zu berühren. Nigel erklärte, dass im Kanal nicht mal ein Meter zwischen Schiffsboden und Grund lag und es folglich kompliziert war, unbeschadet in offenes Gewässer zu gelangen.
Mit Hilfe mehrerer Schlepper vollführte die Mermaidia eine langsame, mühevolle Drehung in dem flachen Wasser. Das ganze Schiff erbebte, als es sich durch Schlamm kämpfen musste, aber letztlich schafften sie es. Nun hatte der Lotse seine Arbeit getan und ging nach unten, um mit einem der Boote zurück nach Venedig zu fahren, und die Mermaidia trat ihre ruhige Fahrt den Canale Grande hinunter an.
Die Gäste redeten kaum, weil alle voller Ehrfurcht die Szenerie genossen. Ven spürte Nigel direkt hinter sich, von wo aus er über ihren Kopf sah. Sie stellte sich vor, wie er sich vorbeugte und sie seitlich auf den Hals küsste, die Arme um ihre Taille gelegt. Leider riss Roz sie jäh aus ihrer Träumerei, indem sie Ven barsch knuffte, damit sie ein letztes Mal zum Markusplatz guckte.
»Ist das wundervoll«, hauchte Stella.
»Sagenhaft«, fügte Eric hinzu. »Was für Erlebnis!«
Ven schluckte ihre Tränen hinunter, die ihr überraschend kamen, als das Schiff die Nase ins offene Meer streckte und Kurs auf die kroatische Insel Korcula nahm. Es hörte sich blöd an, aber ihr war, als würde sie einen Teil von sich in Venedig zurücklassen – jenen Teil, der für immer dort blieb. Ihre Eltern hatten solch ein Glück gehabt, als junge Liebende in dieser Stadt gewesen zu sein. Ven hoffte sehr, dass sie eines Tages selbst noch einmal verliebt in die Stadt reisen könnte. Allein wieder hinzufahren wäre viel zu schmerzlich.
Erics Begeisterung wurde wahrhaft ekstatisch, als Nigel einen kleinen Punkt auf einem der Bildschirme antippte.
»Das ist das Schiff dort drüben«, sagte er und wies durchs Fenster zu einem der echten Schiffe vor ihnen. Im nächsten Moment leuchteten sämtliche Einzelheitenauf dem Monitor auf: der Name des Schiffes, die Maße, wohin es fuhr und dass es einige Gefahrgüter transportierte. Erstaunlicherweise fand Ven es sehr faszinierend. Eric bombardierte den Captain mit Fragen, und Nigel beantwortete sie alle bereitwillig.
»Schnell, guckt mal!«, rief Irene, die zu einer Delfinschule zeigte. Die Tiere stoben aus dem Wasser und zurück, als wollten sie dem Schiff beweisen, dass sie schneller und besser waren. Allerdings war Ven bis dahin schon an einem der Seitenfenster, so dass sie nur das aufgurgelnde Wasser erkannte, wo die Schwanzflossen eingetaucht waren. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, Delfine zu sehen, und bisher war ihr dieses Glück versagt geblieben.
Olive blickte ebenfalls hinaus aufs Meer, sah jedoch nichts, weil sie tief in Gedanken war. Ihr Leben mit David und Doreen kam ihr Lichtjahre entfernt vor, eine Million Planeten weit weg. Und von einem dieser Planeten aus sah sie das ganze Bild ihrer Ehe, das nicht hübsch war. Alles aus der Ferne zu betrachten und eine neue Perspektive zu gewinnen war beängstigend. Was sie hatte, war kein Leben. Dies hier war Leben: Urlaub machen, Essen gehen, sich Zeit zu nehmen, um dazusitzen und ein Buch zu lesen, hin und wieder zu lachen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal in der Land Lane 15 gelacht oder auch nur gelächelt hatte.
»Tja, das war irre«, sagte Royston. »Tausend Dank, Captain. Das war was Besonderes, ja, wirklich besonders.«
»War mir ein Vergnügen«, erwiderte Nigel, bevor einer der Offiziere ihn ansprach.
»Wir gehen lieber und lassen die Leute ihre Arbeit machen«, sagte Royston und sah auf seine Rolex. »In zwanzig Minuten gibt’s schon Essen.«
»Ich sehe Sie dann gleich am
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