Leiden sollst du
denn der Patron hätte gewusst, wenn ich seinen Befehl nicht befolgt hätte, und womöglich dich dafür bestraft. Aber dann bin ich ja sowieso bei dir ... bei euch eingezogen und habe auf dich aufgepasst.“ Zärtlich drückte er ihre Hand.
Marie konnte ihm nicht länger böse sein. Immerhin hatte er sie nicht aus niederen Motiven an GeoGod ausgeliefert, beispielsweise weil er Eindruck schinden wollte oder sie insgeheim hasste. Seine Ratlosigkeit konnte sie gut nachvollziehen, die Geschehnisse der letzten Zeit verwirrten sie ebenfalls sehr, dennoch tat der Verrat weh. Er hätte sie wenigstens warnen können. Aber dann hätte sie sich wahrscheinlich nicht authentisch verhalten und der Patron hätte Lunte gerochen.
„Wie bist du überhaupt auf seine Geocaching-Website aufmerksam geworden?“ Jetzt erst merkte sie, dass sie ihren Mantel noch anhatte. Sie streifte ihn von den Schultern.
„Denis.“
Überrascht weiteten sich ihre Augen. „Hat er dich mit reingezogen, so wie du mich?“
Schuldbewusst senkte er seinen Blick und nickte.
„Wahrscheinlich fürchtete er genauso um das Wohl seiner Mutter und seiner Schwester“, und um das eigene, fügte Marie in Gedanken hinzu, „wie du dich um deine Familie sorgst.“
„Denis sitzt nicht in der Klapse wegen dem Kiffen, sondern weil GeoGod ihn fertiggemacht hat. Claudi hat er verdammt übel mitgespielt, dieser Wichser!“
„Sie ist doch aus dem Fenster gefallen, weil sie mondsüchtig ist“, wandte Marie ein.
„Quatsch! Sie hat davor noch nie schlafgewandelt. Nie in dreiundzwanzig Jahren. Bevor sie ins künstliche Koma versetzt wurde, hat sie was von einem schwarzen Mann gefaselt. Alle glauben, sie hätte geträumt oder halluziniert oder so, aber wir wissen es besser, nicht wahr?“
„Ja.“ mehr brachte Marie nicht heraus, so bestürzt war sie über die Erkenntnis. GeoGod hatte die junge Frau nachts aus ihrem Bett gehoben und sie aus dem Fenster geworfen. Wie gestört musste jemand sein, um so etwas zu tun?
„Davor wurde bei den Buschhütters eingebrochen. Wer ist so bescheuert und versucht etwas von armen Leuten zu stehlen. Nee!“ Benjamin gestikulierte übertrieben heftig, wodurch sein Oberkörper wie eine Stehauffigur hin und her wankte. „Der Spinner hat Denis mit den Nerven fertiggemacht, sodass er immer mehr kiffte und soff.“
Und Ben hatte er auch bald so weit, befürchtete Marie. Sie hielt ihn fest, damit er mit dem Wackeln aufhörte. „War Julia auch Geocacher?“
„Sie mochte weder Computer- noch Brettspiele, hat höchstens mal auf dem Handy gedaddelt, aber das ist Kinderkram. Wir haben alle erst nach ihrem Tod mit dem Cachen angefangen.“
„Julia ...“ Wie sollte Marie es nur ansprechen? Da sie so oder so nicht die richtigen Worte finden würde, denn die gab es nicht, rückte sie ohne Umschweife mit der Sprache heraus. „GeoGod hat mir ihr Smartphone zugespielt.“
Sein Mund öffnete sich, aber er sagte nichts. Ein glänzender Film überzog seine Pupillen.
„Ich habe darauf ein Foto entdeckt. Es war das letzte, das sie auf der Party“, Marie räusperte sich, „in ihrem Leben geschossen hat. Maik und Denis sind darauf zu sehen, sie waren aufgebracht. Aber ich weiß nicht, ob deine Freunde sauer auf Julia, auf einen Gast“, wie Schnapper oder Schardt, aber das brauchte Ben nicht zu erfahren, „oder auf dich waren.“
„Auf mich?“
„Du hast versuchst, das Mädchen vom Fotografieren abzuhalten. Deine Hand ist auf dem Bild, wie sie nach dem Handy greift. Wie eine Klaue.“ Sie machte es ihm vor. „Aggressiv. Außerdem hattest du Kratzer.“
Benjamin stieß die Luft aus, als hätte er sie die ganze Zeit angehalten. „Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?“
„Ihr seid die drei Letzten, die Julia lebend gesehen haben. Das macht euch zu“, sie wagte kaum, es auszusprechen, weil sie es immer noch nicht wahrhaben wollte, „Verdächtigen.“
Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen. Keiner von ihnen bewegte sich. Stocksteif saßen sie nebeneinander auf der Bettkante und starrten sich gegenseitig an. Kein Laut drang vom Hof zu ihnen hoch. Weder Stimmen noch das Plärren des Fernsehers war aus den Nachbarwohnung zu hören und selbst der Regen setzte kurz aus, als hielte die Welt den Atem an.
Bens Augen wurden feucht. „Es war voll Blut.“
„Wovon sprichst du?“, fragte Marie und bekam eine Gänsehaut.
Eine von der Wodkadusche feuchte Strähne fiel ihm in die Stirn, aber er schien sie gar nicht
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