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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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dass er Julia mehr liebte als mich. Für ihn war sie unfehlbar, während ich ihm nie etwas recht machen konnte. Wir passten einfach nicht zusammen.“
    „Trotzdem waren Sie fünf Jahren lang ein Paar.“ Das Gespräch strengte sie wohl sehr an, das tat ihm leid und er nahm sich vor, nur noch wenige Fragen zu stellen.
    „Ewa blieb dreiundzwanzig Jahre bei Horst.“ Sie nieste gekünstelt und stand auf. „Entschuldigung, aber mir geht es wirklich nicht gut.“
    Ihm fiel wieder auf, wie dürr ihre Beine in den schwarzen Leggins waren. Zerbrechlich wie Streichhölzer. Sein Arm war breiter als ihr Oberschenkel. „Tut mir leid, dass ich auf ein Treffen bestanden habe.“
    „Ich habe viel zu viel ausgeplaudert. Manche Dinge sollten in der Familie bleiben“, sagte sie, während sie voraus zum Ausgang ging. „Probleme gibt es doch überall, nicht wahr?“
    Oh ja, dachte Daniel. Der Druck in seiner Brust nahm wieder zu. Vor seinem geistigen Auge tauchte das Messer in seiner Hand auf. Dann das Gesicht seiner Mutter, auf dem sich pure Angst spiegelte. Vor ihm. Vor dem, was er mit der Klinge vorhatte. Der Anblick hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt.
    Nadine Schmitz legte ihre Hand an die Klinke, öffnete die Haustür jedoch nicht. Ihr Blick war der eines Rehs, das ängstlich in den Gewehrlauf des Jägers schaut. „Eine offizielle Aussage möchte ich aber nicht machen. Ich habe Ihnen das im Vertrauen gesagt. Mein Name darf nirgendwo erscheinen.“
    Fürchtete sie sich davor, Horst Kranich könnte sie zur Rede stellen? Oder mit ihr dasselbe tun wie mit Julia? Waren das auch Benjamins Befürchtungen, der die Tat womöglich mit angesehen hatte?
    Nein, das passt nicht , korrigierte sich Daniel. Ben hatte Angst vor dem Patron, aber Horst Kranich steckte auf keinen Fall hinter diesem Pseudonym, denn er war ein Choleriker. Außerdem kannte sich der alte Kranich bestimmt nicht mit dem Internet, Prepaid Handys und Geocaching aus. Der zweite Täter, der sich GeoGod nannte, war dagegen ein Kontrollfreak, einer, dem man seinen inneren Zorn nicht sofort ansah, da er ihn zu verbergen wusste.
    Verdammt! Obwohl das Gesamtbild immer klarer wurde, blickte Daniel immer noch nicht durch. Das ärgerte ihn gewaltig!
    „Sie sollten sich ins Bett legen, da gehören Sie hin. Kurieren Sie sich aus.“ Und schließen Sie nachts Türen und Fenster, hatte er auf der Zunge liegen, sprach die Warnung allerdings nicht aus, weil er damit ihre Furcht nur gesteigert hätte. Außerdem fanden Soziopathen immer einen Weg hinein, das hatte er als Elfjähriger selbst miterlebt.
    Er verabschiedete sich. Das Einsteigen in seinen Wagen fiel ihm diesmal schwerer als üblich. Nicht die Ermittlungen raubten ihm die Kraft, sondern die Vergangenheit, die nun wieder auf ihm lastete. Das schreckliche Erlebnis lag zwar schon viele Jahre zurück – immerhin war er inzwischen sechsunddreißig –, war aber immer noch unangenehm präsent und erdrückend. Es verfolgte ihn seit seiner Kindheit.
    Er bezweifelte, dass er jemals vergessen konnte, was er seiner Mutter damals beinahe angetan hätte.
    Schwer atmend legte er die Stirn auf das Lenkrad und schloss seine Augen. Schon sah er sie vor sich, die Küche mit den mintgrünen Fliesen, von denen sich alte Pril-Blumen lösten; Zeichen aus besseren Zeiten, inzwischen blass wie die kaltweiße Küchenzeile. Er spürte die raue Tapete mit den tellergroßen Blüten, über die seine kleine Hand glitt, als bräuchte er Halt, weil er sich kaum mehr aus seinem Kinderzimmer heraustraute. Er roch den vertrauten Staub, der sich auf dem dunkelbraunen geflochtenen Korblampenschirm sammelte, und stieß unbeholfen gegen den Resopaltisch mit den wackeligen Beinen, als er zusammenzuckte, wenn ein Schatten hinter ihm auftauchte.
    Plötzlich dröhnten die Schreie seiner Mutter schmerzhaft in Daniels Ohren, als säße sie neben ihm auf dem Beifahrersitz.
    Er wusste, er konnte die Bilder von damals nicht zurückhalten, weil die Parallelen zu der Tragödie der Familie Kranich zu eindeutig waren, obwohl dies der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort waren. Hilflos ließ er zu, dass die Erinnerung ihn überrollte, und fühlte sich wieder genauso klein und schwach wie vor fünfundzwanzig Jahren.
     
    „Geh auf dein Zimmer. Schnell!“, hatte seine Mutter ihm an dem Tag, der ihr Leben verändert hatte, befohlen. Äußerlich blieb sie ruhig, doch er hörte das Zittern ihrer Stimme und las die Angst in ihren Augen. Beides kannte er bereits. So hatte

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