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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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sie sich immer verhalten, wenn der Herr des Hauses unter Strom und kurz vor der Explosion stand.
    Aber das war in der alten Wohnung gewesen. In der neuen hatte alles anders werden sollen. Kein Vater, kein Streit, keine Schläge. Doch nun war er zurück. Wie ein wütender Stier scharrte er im Flur mit dem Fuß, als würde er innerlich Anlauf nehmen, um sich jeden Augenblick auf Christiane Zucker zu stürzen.
    Zögerlich ging Daniel ein Stück auf sein Refugium zu, drehte sich jedoch wieder um.
    „Geh endlich. Sofort!“ Nun klang sie nicht länger streng, sondern bittend.
    Daniels elfjähriges Ich schloss die Tür seines Zimmers hinter sich und blieb unschlüssig stehen.
    Als das Geschrei losging, hielt er sich kurz die Ohren zu, befürchtete jedoch, dass sein Vater seine Mutter diesmal töten könnte, und nahm seine Hände wieder weg.
    Alarmiert horchte er, selbst seine Nackenhaare standen wie Antennen auf. Brüllen, Kreischen, erst im Flur, dann hörte es sich an, als würde seine Mutter die Tür im Bad versuchen zu schließen, aber ihr Noch-Ehemann tobte und trat wohl dagegen. „Das werdet ihr büßen!“
    Den Geräuschen nach zerrte er Daniels Mutter an seinem Zimmer vorbei. Ihr Schluchzen kam immer näher, war dann so laut, dass es sein Herz fast zerriss, und wurde wieder leiser.
    Heulend floh Daniel zwischen Kleiderschrank und Bett und hockte sich hin, machte sich ganz klein und doch nicht klein genug, denn in diesem Moment wäre er am liebsten ein Staubkorn gewesen. Unsichtbar, aber noch da, um seine Mutter nicht alleine zu lassen. Aber was konnte er schon tun, um ihr zu helfen?
    Während dicke Tränen über seine Wangen flossen, war er gezwungen, dem Kampf seiner Eltern zu lauschen. Wie immer würde seine Mutter verlieren. Das durfte er nicht zulassen! Auf allen vieren kroch er aus seinem Versteck und zog sich im letzten Moment doch wieder zurück, weil ihm übel wurde. Er griff den kleinen blauen Mülleimer mit den Bildern schicker Sportwagen drauf, den sie ihm letzte Woche geschenkt hatte, obwohl eigentlich kein Geld dafür übrig war, und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
    Er hatte gehofft, dass das vorbei war, dass er diesen Horror nie wieder erleben müsste. Die Sozialarbeiter hatten es versprochen!
    Das hatten seine Mutter und er nun davon, dass sie auf die Mitarbeiter des Frauenhauses gehört hatten. Die hatten sie auch nicht schützen können. Sein Vater hatte trotz aller Sicherheitsmaßnahmen und Verschwiegenheit herausgefunden, wo sie jetzt wohnten. Diesmal war er nicht nur sauer, wie so oft, seit er seine Anstellung als Ingenieur verloren hatte und das Arbeitsamt ihn zwang, einen „Deppenjob“, wie er es nannte, anzunehmen, damit die Familie die Bezüge nicht verlor – „Das vergiftet seinen Verstand“, hatte seine Mutter Daniel heimlich erklärt und gesagt, es würden wieder bessere Zeiten kommen –, sondern er war richtig zornig, da seine Familie vor ihm abgehauen waren. Er behandelte sie wie Leibeigene, die er schikanieren und prügeln konnte, um seinen Frust abzubauen. Vier Jahre lang hatte seine Mutter den Blitzableiter gespielt, hatte sich schützend vor Daniel gestellt und auch die zweite Wange hingehalten.
    Plötzlich schepperte es. Etwas ging zu Bruch. Seine Mutter heulte auf, dann war es unangenehm still.
    Nein! , schrie alles in Daniel, doch kein Laut kam über seine Lippen. Sekundenlang hielt er die Luft an. Vor Schreck versiegten seine Tränen. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an.
    Als er sich gerade verzweifelt fragte, warum die Nachbarn denn die Polizei nicht riefen, hörte er seine Mutter beschwörend auf seinen Vater einreden. Sie lebte! Noch.
    Er sprang auf und lief durch die Wohnung, bis er seine Eltern in der Küche fand. Die Scherben der Vase, die auf dem Tisch gestanden hatte, knirschten unter seinen Sohlen. Seine Mutter hielt ihren Kopf über die Spüle, das Blut aus der Wunde an ihrer Schläfe tropfte hinein und floss zäh in den Siphon. Etwas war seltsam an ihrem Gesicht, es wirkte irgendwie schief und das lag nicht an ihrer geschwollenen Wange, die sich zusehends verfärbte.
    Benommen tastete sie nach einem Trockentuch, presste es auf die Platzwunde und schaute Daniel entsetzt an. „Du sollst das nicht sehen.“
    Jetzt, da sie sprach und ihre Worte undeutlich klangen, bemerkte er, was falsch an ihr war. Ihre Zähne waren rot verfärbt, oben rechts fehlte einer, aber den Anblick kannte er schon. Was ihn jedoch schockierte, war, dass ihr Unterkiefer an

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