Leiden sollst du
einer Seite herabhing.
„Doch, das soll er.“ Sein Vater fasste in ihre kurzen schwarzen Haare, schlug ihre Hand mit dem Tuch weg und drehte ihren Kopf mit der Wunde zu Daniel. „Das wird auch ihm eine Lehre sein. Wir sind eine Familie. Ihr gehört mir. Mir!“
War das tatsächlich der Mann, der früher mit ihm Fußball gespielt hatte? In der Einfahrt ihres Hauses, das sie hatten verkaufen müssen, nachdem Gerald Zucker seine Anstellung verlor und er die Raten nicht mehr zahlen konnte? Der die Verkäuferin in der Fleischabteilung um eine Scheibe Kinderwurst bat, weil Daniel sie so gerne aß? Und der ihm beide Spielzeuge kaufte, wenn Daniel sich nicht zwischen zweien hatte entscheiden können? Nein! Er sah zwar aus wie sein Vater, trug immer noch kurze Haare, Ohren und Nacken ausrasiert, Hemden mit gestärkten Kragen und gewichste Lederschuhe, aber es steckte inzwischen ein anderer hinter der sorgsam polierten Fassade, ein brutales Alien, das von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. „Fass sie nicht an, du Schwein!“
Sein Vater holte aus, um ihm eine zu langen, aber seine Mutter hielt seinen Arm fest. Er lief rot an und stieß ihren Kopf gegen den Hängeschrank über der Spüle. Erst keuchte sie vor Schmerz, dann weinte sie, vor allen Dingen aus Scham, glaubte Daniel. Winselnd presste sie die Hände an ihren Kiefer, als wollte sie sicherstellen, dass er nicht abfiel. Die Blutergüsse an ihren Armen wurden immer dunkler, einige Adern in ihren Augen waren geplatzt und ihr rechtes Lid schwoll weiter an. Blut rann ihren Hals hinab.
„Lauf“, formte sie lautlos mit ihrem schiefen Mund. „Lauf weg.“
Doch er konnte nicht. Diesmal nicht. Er würde seine Mutter nicht noch einmal alleine in diesem ungleichen Kampf gegen seinen Vater lassen. Er war jetzt der Mann im Haus. Sie hatte oft genug die Prügel für ihn eingesteckt, hatte sogar schon mit einem gebrochenen Arm im Krankenhaus gelegen, wo die Ärzte sie überredeten, sich von Gerald Zucker zu trennen und mit ihrem Sohn ins Frauenhaus zu gehen.
Daniel befürchtete, dass es nicht noch einmal so glimpflich für sie ausgehen würde. Vor seinem geistigen Auge sah er nicht den Notarzt vorfahren, sondern den Leichenwagen.
Statt wegzulaufen, riss Daniel die Besteckschublade auf, nahm das Brotmesser heraus und schob sie wieder zu, damit nichts zwischen ihm und seinem Vater stand. Drohend hielt er es hoch. „Hau ab!“
„Leg das Messer weg, und zwar sofort.“ Gerald Zuckers Miene verzerrte sich zu einer Fratze. „Oder du wirst es bereuen.“
„Nein, du wirst es bereuen, wenn du nicht sofort abhaust.“ Selbst in Daniels Ohren klang seine Stimme viel zu piepsig, um ernst genommen zu werden, zumal er die Worte einfallslos wiederholte und sie damit an Wirkung verloren. Doch er fuchtelte mit der Klinge herum, machte sich bewusst, dass er eine Waffe hatte, sein Gegner jedoch nicht, und spürte das erste Mal Adrenalin durch seinen Körper rasen. Durch dieses Feuer fühlte er sich mutiger und stärker als noch kurz zuvor.
„Ich werde dir jeden Knochen einzeln brechen, wenn du das Scheißmesser nicht weglegst, hast du mich verstanden, Balg?“
Eigentlich hätte Daniel vor Furcht erbeben müssen. Warum zitterte er nicht wie früher? Eine Gelassenheit ergriff Besitz von ihm, die ihm neu war und die ihm gefiel. Immerhin lag der Vorteil auf seiner Seite. Die Klinge machte ihn überlegen. Die Hitze in ihm nahm weiter zu, als er den Körper seines Feindes musterte. Sollte er in den Bauch stechen oder doch lieber ins Herz?
„Elendes Muttersöhnchen. Du bist doch eh zu feige, um zuzustechen.“ Plötzlich schnellte Gerald Zuckers Hand nach vorne, um ihn zu packen.
Daniel reagierte blitzschnell. Er dachte nicht nach, sondern hieb instinktiv mit der Klinge nach dem Arm und schnitt ihn, nicht tief, aber er erreichte, was er wollte, denn Gerald Zucker schreckte zurück. Er hörte den Aufschrei seines Vaters und sah das herausquellende Blut, doch es berührte ihn nicht. Seltsam distanziert beobachtete er, wie sein Vater die Tischdecke vom Küchentisch riss und auf den Schnitt drückte, und spürte gleichzeitig einen kleinen Triumph, der ihm einen Kick gab und ihm bewies, dass er gewinnen konnte.
Drohend machte Daniel einen Schritt auf ihn zu. Wie ein Nachwuchsrambo schwang er das Brotmesser.
Unerwartet stellte sich seine Mutter ihm in den Weg. „Nicht. Tu das nicht.“
„Ich werde ihn fertigmachen, wie er uns fertiggemacht hat.“ Daniel verstand die Welt nicht mehr.
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