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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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Wie konnte sie ihn davon abhalten, das zu tun, woran sie doch mit Sicherheit selbst dachte?
    „Wenn du das tust, bist du nicht besser als er“, brachte sie mühsam nuschelnd hervor. Blutiger Speichel rann aus ihrem herabhängenden Mundwinkel. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Fürchtete sie sich etwa vor ihm? Wie konnte das sein?
    Ihre Worte und die Verwirrung ließen seinen Zorn innerhalb weniger Sekunden in sich zusammenfallen. Er schaute auf die Klinge in seiner Kinderhand und sah nun wieder den elfjährigen Jungen, der er in Wirklichkeit war. Er kam sich lächerlich vor, hilflos und klein.
    Warum tat seine Mutter ihm das an? Wieso hielt sie ihn auf? Er hätte es zu Ende bringen können. Hier und jetzt!
    Als sein Vater seiner Mutter mit beiden Fäusten in den Rücken schlug, fiel sie wie ein Stein zu Boden. Beim Aufprall wich die Luft hörbar aus ihren Lungen, doch ansonsten gab sie keinen Laut von sich.
    Daniel dagegen schrie erschrocken auf. Doch bevor er ihr aufhelfen, sich auch nur zu ihr hinabbeugen konnte, musste er flüchten, denn sein Vater hatte sie nur niedergeschlagen, um an ihn heranzukommen. Schon hechtete Gerald Zucker über seine Frau hinweg, trat auf ihre Hand, ohne dem Beachtung zu schenken, und stürmte auf Daniel zu. Dieser flog herum und floh durch den Korridor.
    Kurz vor der Wohnungstür bekam sein Vater Daniels T-Shirt zu fassen. Dieser wurde zurückgerissen, der Bund drückte schmerzhaft gegen seine Kehle und raubte ihm den Atem.
    Aber die Angst setzte neue Kräfte in ihm frei. Sein Puls raste. Er riss sich los, indem er sich einmal um die eigene Achse drehte. Keuchend lief er durch das Wohnzimmer. Das Fenster dort stand weit offen. Ohne anzuhalten, sprang er auf den Sims und ließ sich einfach fallen.
    Als er auf dem Garagendach eine Etage tiefer aufkam, fühlte es sich an, als würden seine Beine ihm bis in den Bauch gedrückt. Er befürchtete, sein Herz könnte seinen Brustkorb sprengen, so schnell und hart schlug es, als er nach oben spähte. Brüllend lehnte sich sein Vater aus dem Fenster, folgte ihm jedoch nicht.
    Er hat recht, dachte Daniel von Schuldgefühlen zerfressen, du bist ein Feigling, rennst weg und lässt deine Mutter mit diesem Schläger allein. Aber er musste ihr doch helfen! Nur wie?
    Als könnte sein Vater die Verzweiflung auf seinem Gesicht ablesen, grinste er und verschwand im Apartment. Er wusste, wie er Daniel seine Aufsässigkeit heimzahlen, wie er ihn verletzen konnte, mehr noch, als wenn er ihn krankenhausreif geschlagen hätte.
    Erneut liefen Tränen über Daniels Wangen. Er fühlte sich elend und hilflos. Dieses Schwein könnte längst tot sein, durch seine Hand. Jetzt ließ er seine Wut an seiner Ehefrau aus. Das durfte Daniel nicht zulassen! Aber er war erst elf Jahre alt. „Was soll ich tun? Was soll ich nur tun?“
    Mit dem Shirt wischte er seine Augen trocken und sprintete los. Er sprang vom Garagendach, knickte mit dem linken Fuß um und rannte weiter, obwohl sein Knöchel bei jedem Schritt höllisch wehtat. Erst im Büdchen an der Ecke hielt er an.
    Özmir, der deutsch-türkische Besitzer, bei dem Daniel immer montags Lakritzschuhe für fünf Pfennig das Stück kaufte, hob erschrocken beide Hände. „Was willst du mit der Klinge, Junge?“
    Erst da bemerkte Daniel, dass er das Brotmesser noch immer in der Hand hielt. Er ließ es einfach los. Kraftlos fiel er auf seine Knie. Ein Beben ging durch seinen Körper.
    Mit dem Schock kam das Zittern, wodurch seine Worte abgehackt klangen: „Er wird meine Mama töten ... rufen Sie die Polizei ... bitte, bitte ... die Grünen, schnell ... mein Vater wird sie umbringen, totschlagen ...“ Er nannte die Hausnummer, mehrmals, da er unsicher war, ob Özmir ihn verstand, wo er doch so heftig schluchzte.
    „Wie gut, dass du anders bist als dein Vater. Du bist ein guter Junge. Ich bin gleich zurück“, sagte Özmir aufgeregt und eilte zum Telefon im hinteren Teil des Kiosks.
    Anders? Dieses Wort hallte in Daniel so lange wider, bis er erkannte, warum seine Mutter ihn gebeten hatte, zu fliehen, anstatt den Helden zu spielen. Nicht nur, weil er gegen einen Erwachsenen ohnehin keine Chance gehabt hätte, sondern vor allen Dingen, um ihn davor zu bewahren, so zu werden wie sein Erzeuger.
    Ihre Befürchtungen waren berechtigt gewesen. Als er das erkannte, zitterte er ein bisschen weniger, dafür glühte er mit einem Mal und fühlte sich fiebrig.
    Hatte er nicht denselben Zorn wie sein Vater verspürt, die

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