Leiden sollst du
Hitze und das Adrenalin, das alles andere ausradierte, sogar jedes Mitleid und jede Vernunft? Er hatte Gerald Zucker nicht mehr als ein Familienmitglied wahrgenommen, sondern als Feind, den es zu vernichten gab. So musste es seinem Vater auch ergehen. Er spürte offenbar diesen krankhaften Zorn, der seine Welt rot färbte und der die Realität in weite Ferne rückte, sodass er zu spät bemerkte, dass er denen Leid zufügte, die ihm am nächsten standen.
So wollte Daniel auf keinen Fall sein! Aber beinahe wäre er so geworden. Hätte er eben zu Hause seinem Wutanfall nachgegeben und auf seinen Vater eingestochen, wäre er vielleicht genauso böse geworden wie er. Jeden Tag ein bisschen mehr. Bis er genauso aufbrausend und brutal gewesen wäre.
„Wenn du das tust, bist du nicht besser als er“, hatte seine Mutter gesagt und er hatte die Angst in ihren Augen gelesen. Sie hatte sich nicht vor ihm gefürchtet, sondern davor, dass er denselben Charakterzug in sich trug wie der Mann, der ihn gezeugt hatte, wurde ihm mit einem Mal klar.
„Ich bin nicht so wie er. Auf keinen Fall!“ Wimmernd wiegte Daniel seinen Oberkörper vor und zurück. Fast wäre er zum Mörder geworden. Es hätte ihm in diesem Augenblick nichts ausgemacht. Im Gegenteil! Er hätte sich gut dabei gefühlt, schließlich war sein Vater der Böse. Doch wie hätte er hinterher damit weiterleben sollen, einen Menschen abgestochen zu haben? Seine Mutter hatte ihn auch davor bewahrt.
Die Polizei kam und verhaftete Gerald Zucker, doch da hatte er seine Ehefrau Christiane schon so schwer verprügelt, dass sie erst nach vielen Monaten aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Das Drahtgestell in ihrem Unterkiefer machte es ihr zwar bis zum heutigen Tag möglich, bis auf ein leichtes Nuscheln relativ normal zu sprechen und zu essen, aber ihre untere Gesichtshälfte blieb entstellt.
Die Polizisten hatten seine Mutter vor dem Tod gerettet. Sie waren mutiger gewesen als er, der feige weggelaufen war, denn sie hatten die Wohnung gestürmt und wiedergutgemacht, was er verbockt hatte. So wollte er auch werden! Er wollte gut sein und entschied sich damals schon dazu, eines Tages ebenfalls Polizist zu werden, um anderen, die auch so schwach und hilflos waren wie er, zu helfen.
Sein Vater wurde verurteilt. Nach dem Prozess sahen sie ihn nie wieder. Doch Gerald Zucker hielt sich ganz in ihrer Nähe auf, das wusste Daniel mit Sicherheit! Denn nachdem er im März den Unfall im Klettergarten gehabt hatte, erhielt er eine Karte mit Genesungswünschen, abgestempelt in Köln, unterzeichnet mit „G. Z.“. Seitdem fühlte er sich beobachtet.
Ein plötzlicher Wolkenbruch ließ ihn hinter dem Lenkrad zusammenschrecken. Er richtete seinen Oberkörper auf, fuhr das Seitenfenster ein Stück weit herab und hielt seine Hände durch den Spalt hinaus, sodass sie nass wurden. Erschöpft von den Emotionen, die er erneut durchlebt hatte, rieb er sich die Feuchtigkeit ins Gesicht und spähte zum Himmel auf. Trist grau. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es sich nach seinem Besuch bei Nadine Schmitz zugezogen hatte.
Er musste an die Familie Kranich denken und dass ihre Familientragödie nicht so glimpflich ausgegangen war wie die seine, immerhin lebten seine Mutter und er noch. So wie es aussah, hatte Horst Kranich seine Tochter Julia in einem cholerischen Anfall und vermutlich unter Alkoholeinfluss an Ort und Stelle – auf dem Grundstück der Spedition – dafür bestraft, dass sie entgegen seiner Anweisung die Party der Volksküche besucht hatte und zudem dort wie ein Flittchen herumlief.
Das erzählte er auch Tomasz am Handy. „Wir haben einen Verdächtigen. Endlich!“
„Wir“, Tom machte eine bedeutungsvolle Pause, um Daniel darauf hinzuweisen, dass er nicht im selben Boot saß, was wehtat, aber Daniel wusste, er wollte ihn nur davor schützen, sich seine Rückkehr zu verbauen, „haben nichts in der Hand. Keine Fakten oder handfesten Beweise.“
„Der alte Kranich ist frustriert vom Leben“, so wie sein Vater, Gerald Zucker, allerdings war dieser kein Alkoholiker gewesen, aber das machte keinen Unterschied. „Er ist arbeitslos, seine Familie zerfällt und er hat keine Perspektive mehr. Das ist bei einem Hitzkopf und Trinker wie ihm, als ob man Öl ins Feuer gießt.“
Tom seufzte am anderen Ende der Leitung. „Reine Spekulation.“
Nein, das waren Erfahrungswerte, die Daniel aus seiner Kindheit ableitete. „Aber er hat seine Gewaltbereitschaft uns gegenüber
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