Leiden sollst du
führten eine Art Schattendasein. Das kannte Daniel nur zu gut. Nicht nur, weil seine Mutter dieselbe nervenaufreibende Tortur durchgemacht hatte, sondern er selbst als Kind ebenfalls.
Bei Frau Schmitz lag die Sache etwas anders. Er glaubte nicht, dass ihr Mann Hand an sie legte, sondern sie versuchte nur still zu stehen, damit der Schmerz darüber, dass Markus ihre Tochter körperlich und seelisch gequält hatte, sie nicht traf, sondern an ihr vorüberwehte wie der Herbstwind das Laub zu ihren Füßen. Aber das funktionierte nicht, denn der Orkan entstand in ihrem Inneren.
Daniel musste daran denken, wie angriffslustig sich Markus und Horst Kranich verhalten hatten, als er sie mit Tomasz in Chorweiler aufgesucht hatte. Dabei waren sie dort gewesen, um von ihnen sachdienliche Hinweise zu bekommen, die womöglich zum Durchbruch bei der Suche nach Julias Mörder hätten führen können, und nicht, um sie als Verdächtige zu verhören.
Der Ältere hatte mit seinem aufbrausenden Temperament nicht hinter dem Berg gehalten. Von dem Jüngeren war eher eine subtile Bedrohung ausgegangen. Daniel hatte gedacht, dass Markus Kranich einfach ein arrogantes Arschloch war, der glaubte, cleverer als andere zu sein, da er dem Ghetto entkommen war. Mit dem Wissen, das er nun hatte, befürchtete er jedoch, dass er sich von ihm hatte blenden lassen. Anscheinend hatte sein wahrer Charakter immer wieder kurz aufgeblitzt, doch anders als sein Vater, besaß er die innere Stärke, das in ihm schwelende aufbrausende Temperament zu kontrollieren.
Etwas regte sich tief in Daniel. Ein nervöses Ziehen in seinen Eingeweiden.
Nachdenklich strich er mit Daumen und Zeigefinger über seinen gestutzten Mund-Kinn-Bart. „Warum haben sich Nadine und Markus getrennt?“
Herr Schmitz verschränkte seine Arme vor dem Oberkörper und legte sie auf seinem Bauch ab. „Er wollte sehr gerne Kinder haben, sie auf keinen Fall.“
„Zumindest nicht von ihm“, warf seine Ehefrau ein und schaute mit besorgt gerunzelter Stirn zum Himmel auf, der seine Farbe von Hellgrau zu Anthrazit wechselte.
„Sie hatte Angst“, Marie zögerte und sprach dann doch weiter, „er könnte die Kids misshandeln, so wie er sie misshandelt hat.“
Während er nickte, senkte Frau Schmitz verlegen ihren Blick.
Wieder einmal überraschte es Daniel, wie gut sich Marie in andere hineinversetzen konnte. Er selbst wäre davon ausgegangen, dass Nadine es einfach nur satthatte, ihre blauen Augen mit Make-up zu kaschieren und im Hochsommer langärmelige Oberteile zu tragen, damit ihre Kommilitonen die Blutergüsse nicht bemerkten.
„Er passte nicht zu ihr, nicht in diese Gegend, nicht in unsere Schicht. Entschuldigen Sie, wenn ich so offen bin, aber mochte seine Kleidung auch teurer sein als unsere, er war trotzdem nicht unser Niveau.“ Die Schweißflecken unter Herrn Schmitz’ Achseln wurden immer größer.
„Nur weil er aus Chorweiler stammt?“ Hatte Marie eben noch Anteilnahme gezeigt, so schnaubte sie nun umso empörter. „Dort wohnen gute, ehrliche Menschen, die teilweise drei Jobs haben, um überhaupt einigermaßen über die Runden zu kommen.“
Daniel quittierte Maries Gerechtigkeitssinn mit einem Lächeln und schwieg.
„Er geriet öfter mit dem Gesetz in Konflikt, wie man so schön sagt.“ Vereinzelte dicke Regentropfen fielen auf Herrn Schmitz’ Schultern und hinterließen dort Wasserflecke. „Trunkenheit am Steuer, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Schwarzfahren, als er seinen Lappen einige Monate abgeben musste ... Er sieht picobello aus, weiß sich zu verkaufen, aber irgendwas in seinem Kopf tickt nicht richtig.“
Er tippte mit seinem Zeigefinger so energisch gegen seine Stirn, dass Daniel befürchtete, es könnte eine Delle zurückbleiben.
„Wie meinen Sie das?“
„Ein Wolf im Schafspelz.“ Herrn Schmitz’ Miene verfinsterte sich. „Er will etwas Besseres sein, schafft es aber nicht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wie Sie so treffend sagten. Markus Kranich ist ein Schläger wie sein Vater, aber man sieht und merkt es ihm nicht an. Er weiß sich eben zu verkaufen, ist gewitzt und brutal wie Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer , falls Sie sich an den Film noch erinnern.“
Plötzlich kam Daniel das Profil des Serienkillers in den Sinn. Stück für Stück fielen die Puzzleteile an ihren Platz.
38
„Der Gesuchte besitzt Sozialkompetenz ...“, hatte Tomasz gesagt.
Klack.
„Männlich, intelligent, aber in einem kontrollierten
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