Leiden sollst du
mit Julia in einem Zimmer gewohnt, hatte sie vor den Übergriffen ihres Vaters geschützt und sich um sie gekümmert, selbst noch, nachdem er von zu Hause ausgezogen war. Ihr Verhältnis war eng. Sehr eng.
Als sie ermordet wurde, drohte er am Kummer darüber zu zerbrechen. Hinzu kam, dass er sich nicht einfach etwas ungesühnt wegnehmen ließ, dass nur er eine Beziehung beenden durfte, wie er durch Nadines Vergewaltigung bewies.
Sein eigenes Leid hatte dazu geführt, dass er andere leiden ließ. Aus Vergeltung. Aus Hass. Aber auch, um sie den Schmerz spüren zu lassen, den er selbst empfand.
Markus Kranich war der Serienkiller.
Der Serienkiller war GeoGod.
Markus Kranich war GeoGod.
Er hatte davon Kenntnis, dass Denis, Ben und Maik die Schuld an Julias Tod trugen, und übte nun eine perfide Form von Selbstjustiz aus. Nur, woher kannte er die Wahrheit?
Er hatte die Jungs nicht einfach umgebracht, weil sie zu dem Zeitpunkt, an dem er seinen Rachefeldzug begann, noch nicht volljährig gewesen waren, denn er mochte Kinder und Jugendliche, weil sie unschuldig und Opfer waren.
Aber wie passten der Streetworker, der Obdachlose und die Polizistin ins Bild?
„Er zieht weg. Darf er das trotz laufender Ermittlungen?“ Marie verstaute seinen Rollstuhl auf dem Rücksitz, nachdem Daniel eingestiegen war.
Verwirrt lehnte er sich aus der Öffnung an der Fahrerseite. „Wer?“
„Markus Kranich. Hast du denn nicht zugehört?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Sie warf die Tür zu, ging um das Auto herum und setzte sich neben ihn. „Frau Schmitz kennt seinen neuen Vermieter durch den KVV, den Kölner Vermieterverein, dem das Ehepaar Schmitz auch angehört, und der erzählte ihr von Kranichs Auszug. Als er ihn um seine neue Telefonnummer bat, im Falle von Rückfragen, sagte er, er würde dort, wo er hinwill, kein Telefon haben. Was hat das zu bedeuten?“
„Dass er untertauchen wird.“ Aufbrausend schlug er auf das Lenkrad. „Scheiße!“
Marie warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Die Schmitz sind froh. Wenn es nach ihnen geht, können sie gar nicht genug Kilometer von Kranich trennen. Er ist ein rotes Tuch für sie, kein Wunder.“
Kaum hatte sie ihre Tür zugezogen, ging ein Regenschauer nieder. Die großen Tropfen trommelten ohrenbetäubend aufs Dach.
„Wir müssen Benjamin aus dem Krankenhaus holen“, sagte Daniel laut, um den Krach zu übertönen.
Maries Stirn legte sich in Falten. Sie neigte sich zu ihm, anscheinend, damit sie nicht ebenso schreien musste wie er. „Das ist noch zu früh. Es wird noch ganz schön viel Alkohol in seinen Adern fließen.“
„Dort ist er nicht sicher.“ Daniel glaubte nicht, dass es ausreichen würde, einen Kollegen der Schutzpolizei vor Bens Krankenzimmer zu positionieren. Der würde GeoGod nicht daran hindern, sein Spiel zu beenden. Denis befand sich in der Psychiatrie und Maik in Polizeigewahrsam. Folglich stellte Ben die einzige Person dar, die etwas mit Julias Ableben zu tun hatte und für GeoGod noch zu erreichen war.
Besorgt weiteten sich Maries Augen.
Er würde ihr alles auf der Fahrt zur Klinik erklären. Daniel holte sein Handy aus der Hosentasche und wählte Tomasz’ Nummer, um ihn und ja, auch Leander, zu alarmieren.
Der Regen lief in dicken Schlieren über die Scheiben und schirmte sie vom Rest der Welt ab.
Marie hatte wie immer recht gehabt, das Frühstück würde an diesem Morgen ausfallen, aber ihm war vor Aufregung und Sorge um Benjamin ohnehin der Appetit vergangen.
39
Marie konnte mit Daniel, der seinen Rollstuhl mit schnellen kräftigen Armbewegungen anschob, kaum Schritt halten. Das Klacken ihrer Pumps klang unangenehm laut auf dem Klinikboden und hallte in den Gängen wider. Skeptische Blicke verfolgten sie. Dass die Krankenschwestern sie nicht aufhielten oder gar hinauswarfen, grenzte an ein Wunder. Aber wahrscheinlich dachten sie, es handele sich um einen Notfall. Und es war ja auch irgendwie einer, auch wenn Marie glaubte, dass Kranich nicht ausgerechnet jetzt zuschlug, während Benjamin sich in einer öffentlichen Einrichtung aufhielt.
Als sie am Glaskasten der Stationsschwestern vorbeirauschten, fiel Marie ein Mann in Straßenkleidung auf, der etwas auf einem Block notierte oder es zumindest versuchte, die Spitze seines Kugelschreibers anhauchte und dann weiterschrieb, stoppte und die Miene wild über das Blatt kratzen ließ, sodass es zerriss. Der Pfleger vor ihm verdrehte seine Augen und reichte ihm einen neuen
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