Leiden sollst du
losreißen.
Sprachlos folgte sie ihm. Was hatte er vor?
Im Aufzug hielt sie ihren Ärger nicht länger zurück. „Hast du deinen Kampfgeist verloren? Natürlich steht nicht fest, dass Kranich Benjamin in seiner Gewalt hat, aber wenn auch nur der Hauch der Möglichkeit besteht, müssen wir etwas unternehmen!“ Außerdem befürchtete sie, Ben könnte sich genauso etwas antun wie Denis.
Die Türen glitten zu. „Selbstverständlich werden wir das.“
„Selbstverständlich?“
„Ich hatte nie etwas anderes vor“, sagte Daniel und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Mit einem Ruck setzte sich der Lift in Bewegung. „Fangen wir unsere Suche in der ehemaligen Volksküche an. Dort begann der Horror.“
„Glaubst du wirklich, dass Markus Kranich ihn dorthin verschleppt hat? Wäre das nicht zu offensichtlich?“
„Vielleicht will er Ben genau dort, wo Julia umkam, dafür bestrafen, dass er ihr nicht geholfen und sie vor seinen Freunden gerettet hat.“ Nachdem sich die Türen geöffnet hatten, bedeutete er ihr mit einer Geste, dass er ihr den Vortritt ließ.
Sie ging hinaus und wartete, bis er zu ihr aufgeschlossen hatte. „Also gehst du doch davon aus, dass er abgehauen ist.“
„Ich ziehe alle Möglichkeiten in Betracht, wie Tomasz auch.“
Manchmal verstand sie ihn nicht. „Warum hast du dich dann mit ihm gestritten?“
„Weil ich andere Prioritäten setze.“ Während er neben ihr zum Ausgang fuhr, zwinkerte er ihr zu. „Wenn sie Kranich finden, werden sie ihn aufs Präsidium zum Verhör bringen oder Benjamin aus seinen Klauen retten. So oder so wäre Ben in Sicherheit.“
„Und warum suchen wir nicht nach Markus Kranich?“, fragte sie und hielt ihm die Seitentür auf, damit er nicht durch die Drehtür musste, die ihrer Meinung nach viel zu klein für Rollstuhlfahrer konzipiert war.
„Weil wir unbewaffnet sind.“ Zerknirscht presste er die Worte heraus. „Weil wir nur zu zweit sind. Weil wir keinen Zugriff auf die Informationen, die dem KK 11 vorliegen, haben. Es dauert zu lange, bis wir herausgefunden haben, wo er gearbeitet, gewohnt und seine Freizeit verbracht hat, und mit allen gesprochen haben, um zu erfahren, wohin er gezogen sein könnte. Uns läuft die Zeit davon. Für eine Fahndung ist unser Heer zu klein.“
„Unser Heer?“
„Unser Ermittlerteam.“ Er schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Was die Suche nach Ben betrifft, haben wir zumindest Ansatzpunkte.“
Das klang gut in ihren Ohren. Als Daniel im März den Kletterunfall gehabt hatte, war die Eisscholle, auf der sie gemeinsam gelebt hatten, entzweigebrochen. Sie hatten auf den verschiedenen Stücken gesessen und waren auseinandergedriftet. Doch die Strömung hatte sie wieder zusammengeführt und die Teile wuchsen langsam wieder zusammen. Nun, endlich, waren sie wieder Partner – in zweierlei Hinsicht!
Durch den strömenden Regen kämpften sie sich nach Porz durch. Marie war froh, dass Daniel den Wagen fuhr, denn man konnte auf der Straße kaum das Auto vor einem erkennen. Wie er die umgebaute Mechanik beherrschte! Sie war stolz auf ihn. Souverän parkte er vor der ehemaligen Vokü, als hätte er nie etwas anderes als ein Fahrzeug mit Handkupplung gefahren.
Obwohl sie ihre Kapuze über den Kopf zog, war sie von oben bis unten nass, nachdem sie Daniel mit dem Rolli geholfen und zum Gebäude geeilt war. Auf der Treppe schüttelte sie sich.
Er hielt vor dem Eingang an und schrie gegen das Trommeln des Regens an: „Ich werde erst den Hintereingang prüfen, damit wir keine böse Überraschung erleben. Warte hier! Geh nicht alleine rein.“
Dicht drückte sie ihren Rücken gegen die Haustür. Quietschend glitt diese auf.
Marie spähte in den dunklen Gang und haderte. Sollte sie schon hineingehen? Daniel hatte gesagt, sie sollte auf ihn warten, aber sie war sich nicht sicher, ob er mit seinem Rolli von hinten das Haus betreten konnte, denn, wie sie von ihrem ersten Besuch wusste, war die Terrasse erhöht.
Es kribbelte unter ihren Sohlen. Sie glaubte, ihre Armbanduhr ticken hören zu können, vielleicht war es auch ihr Herz, das vor Aufregung schneller schlug. Der Tag verging erschreckend schnell, es war bereits Mittag. Sie konnten es sich nicht leisten, Zeit zu vergeuden. Vielleicht hielt Kranich Benjamin in der Volksküche gefangen und Ben stand Todesängste aus. Möglicherweise kauerte ihr Cousin auch an den Bahnschienen, heulte sich die Augen aus und, anders als bei Denis, war niemand bei ihm, der ihn davon abhielt,
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