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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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er zu wenig fühlte – sondern zu viel.
    Er gab ja zu, einen Panzer um sich aufgebaut zu haben, aber in ihm wirbelten seine Gedanken so laut durcheinander, dass er kaum noch mitbekam, was um ihn herum geschah. Als seine Ma angefahren wurde, hatte der Sturm in seinem Kopf vor Schock kurz Ruhe gegeben – als stände er im Auge eines Tornados –, um danach umso lauter weiterzutosen. Ben befürchtete, eines Tages über diesen Krach noch verrückt zu werden!
    Marie neigte sich zu ihrer Tante Heide herunter und drückte sie vorsichtig. „Ich wäre schon gestern gekommen, aber Mutter meinte, die Untersuchungen im Krankenhaus würden bis spät in die Nacht dauern.“
    „Mit der Prognose hatte sie recht gehabt. Außerdem hätte es sein können, dass ich notoperiert werden musste. Aber die Verletzungen stellten sich als halb so schlimm heraus, darum wurde ich nicht stationär aufgenommen. Mein Fuß ist nur angebrochen und die Hämatome sehen schlimmer aus, als sie sind.“ Heide bemühte sich um ein Lächeln, aber es wirkte gekünstelt. „Musst du nicht arbeiten?“
    Marie schaute auf die Wanduhr, sie zeigte kurz nach zwölf Uhr an. „Ich habe eine Stunde Mittagspause. Als meine Mutter gestern Abend am Telefon meinte, es sieht böse aus, wäre ich am liebsten sofort zu dir in die Klinik gekommen.“
    „Weil du dachtest, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.“ Vorwurfsvoll schaute Heide Irene an. „Du weißt doch, wie sie ist. Sie neigt zu Übertreibungen.“
    Irene Bast zog den Saum ihres Rockes tiefer zu ihren Knien und strich den Stoff glatt. „Du redest, als würde es sich um eine Lappalie handeln. Meine Liebe, ein Mann hat dich angefahren. Wie du sagtest, ist er mit quietschenden Reifen losgefahren, hat dich auf die Motorhaube genommen und auf den Asphalt geschleudert, dabei war auf dem Parkplatz des Supermarkts kaum etwas los, sodass er dich hätte sehen müssen. Dann ist dieser Rowdy auch noch geflüchtet, ohne dir zu helfen. Ich finde das schockierend. Du hättest sterben können.“
    Benjamin fühlte einen Stich im Herzen. Seine Beine waren plötzlich wie Pudding. Am liebsten wäre er in den Schutz seines Zimmers geflüchtet, aber erst musste er mit Marie reden.
    „Bin ich aber nicht. Also, warum sich um etwas Kopfschmerzen machen, was nicht eingetreten ist. Unkraut vergeht nicht“, zwitscherte seine Mutter fröhlich, doch als sie das Kissen hinter ihrem Rücken zurechtrückte, biss sie ihre Zähne zusammen und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz.
    „Hat die Polizei eine erste Spur? Das Autokennzeichen oder eine Täterbeschreibung?“ Marie nahm die blau-grün karierte Wolldecke, die auf der Armlehne der Couch lag, und wollte sie über Heides Beine ausbreiten.
    Doch diese wiegelte ab. „Ein Passant hat sich tatsächlich das Kennzeichen aufgeschrieben, aber es existiert nicht. Wahrscheinlich hat er es sich falsch gemerkt.“
    Ordentlich legte Marie die Decke zurück, aber Irene zupfte dennoch daran herum, sodass ihre Tochter mit den Augen rollte, was Ben trotz seiner Anspannung ein Grinsen entlockte. Kein Wunder, dass er seine Cousine gut leiden mochte. Das Verhältnis zu ihren Müttern war bei ihnen beiden nicht einfach.
    Doch dann sagte sie etwas, das ihn aufwühlte: „Oder es handelte sich um ein gefälschtes Kennzeichen.“
    „Wie kommst du darauf?“, schoss es aus Ben heraus. Sogleich biss er sich auf die Zunge. Seine Wangen brannten und er hatte das Gefühl, man sah ihm an, dass er etwas verheimlichte, etwas Schlimmes.
    Hatten seine alten Kollegen Daniel auf ihn angesetzt, weil es Hinweise gab, die ihn mit dem Verschwinden von Julia oder dem Auto, das seine Ma auf dem Parkplatz von den Füßen geholt hatte, in Verbindung brachten? Hatte Daniel, der von seinem Vertrauensverhältnis zu Marie wusste, wiederum seine Frau gebeten, ihm auf den Zahn zu fühlen?
    Nein, wohl eher nicht! Wenn die Beweise in seine Richtung gedeutet hätten, hätte man ihn längst aufs Polizeipräsidium bestellt oder sogar verhaftet. Das alles machte ihn langsam verrückt! Über seine Angst würde er noch wahnsinnig werden. Bevor sie ihn auffraß und er daran zugrunde ging, musste er seine Furcht mit Marie teilen. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Auch wenn er sie besser aus allem heraushalten sollte. Er brachte eine weitere Unschuldige in Gefahr. Aber man ließ ihm keine Wahl. Ein Schweißtropfen rann zwischen seinen Schulterblättern hinab.
    „Durch meine Arbeit beim Gericht denke ich wohl ständig an Verbrechen.“

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