Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
Vom Netzwerk:
Sie winkte ab und strich sich mehrfach eine Strähne hinter ihr Ohr, doch das Haar war so kurz und kraus, dass es nicht hielt. Im Hintergrund presste die Kaffeemaschine geräuschvoll die letzten Tropfen Wasser in den Filter. „Das war nur so dahingesagt. Ich hole den Kaffee.“
    „Deckst du den Tisch?“ Heides Augen weiteten sich, um Ben ohne weitere Worte mitzuteilen, dass seine Chance gekommen war, sich ausnahmsweise mal von seiner guten Seite zu zeigen. Er kannte seine Mutter und diesen eindringlichen Blick.
    Es tat ihm leid, sagen zu müssen: „Keine Zeit.“ Ihr enttäuschter Seufzer versetzte ihm einen Stich, aber er ging trotzdem in die Küche.
    Im Wohnzimmer hörte er seine Tante Irene sagen: „Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Ich mache das schon, meine Liebe.“ Der vorwurfsvolle Ton machte ihn sauer, aber wie immer schwieg er.
    Wie hielt Marie es nur mit ihrer Mutter aus? Er stellte sich neben sie und überlegte, wie er es formulieren sollte, damit ihr nicht vor Schreck die Glaskanne aus der Hand fiel. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er nahm Kobold, drückte ihn an seinen Oberkörper und streichelte ihn unentwegt, weil ihn das beruhigte. Für gewöhnlich zumindest. Diesmal klappte es nicht.
    Sie schaltete die Maschine aus und spülte die Thermoskanne mit heißem Wasser aus dem Hahn aus. „Warum bist du schon wieder nicht in der Schule?“, wollte sie wissen und klang keineswegs tadelnd, sondern besorgt.
    „Ich gehe gleich noch hin. Heute Vormittag habe ich nicht viel verpasst“, log er, dabei hatte er nicht vor, sich dort blicken zu lassen.
    „Deine Mutter ist ganz schön mitgenommen.“ Vorsichtig goss sie den Kaffee in die Kanne. „Sie versucht das nur nicht zu zeigen, damit du dir keine Sorgen machst.“
    „Ich weiß. Habe sie in Unterwäsche gesehen, als ich ihr heute Morgen beim Anziehen geholfen habe. Sie ist voller Blutergüsse und Schrammen.“ Bei der Erinnerung wurde ihm flau im Magen. Angeblich hatte sein Vater heute einen wichtigen Geschäftstermin und konnte sich deshalb keinen Urlaub nehmen, um bei ihr zu bleiben. Seine Mutter hatte behauptet, Verständnis dafür zu haben, aber als er am Morgen weg war, hatte sie ihren Schuh gegen seinen Kleiderschrank geschmettert. Zu Benjamin hatte sie gemeint, das hätte sie nur getan aus Wut darüber, dass sie bei jeder Bewegung Schmerzen hätte und nicht so konnte, wie sie wollte. Doch er war kein Kind mehr und verstand, dass sie sich über seinen Vater ärgerte.
    Marie schraubte den Verschluss auf, drehte sich zu Ben um und schaute ihn einfühlsam an. „Bist du okay?“
    Er schwieg und wünschte sich einmal mehr, der mysteriöse Wagen hätte ihn umgenietet und nicht seine Ma. Sie hatte nichts damit zu tun! Sie war eine gute Seele. Anders als er.
    Marie fasste seine Oberarme, drückte leicht zu und dämpfte ihre Stimme. „Was ist los?“
    Verstohlen schaute Ben über seine Schulter zurück zum Wohnzimmer. Er hob Kobold an seinen Hals, damit er sein Fell und seine Körperwärme spürte. Die Ratte schnupperte an ihm. Ihre Nase strich über Benjamins Haut und es fühlte sich für ihn an, als wollte sie ihn trösten. Schwer würgte er den Kloß in seiner Kehle runter. Ihm war brütend heiß, dabei überzog kalter Schweiß seine Haut. Er flüsterte: „Ich habe sie angefahren.“
    Marie runzelte ihre Stirn. Plötzlich schnappte sie entsetzt nach Luft. „Du hast am Steuer des Wagens gesessen?“
    Bestürzt über diesen Vorwurf schüttelte er seinen Kopf. „Nein, das nicht. So war es nicht. Aber der Unfall war meine Schuld. Ich habe ihr das angetan.“
     

6
     
    Marie traute ihren Ohren nicht. Sie stellte die Isolierkanne so hart auf die Arbeitsfläche neben die Plastikbox, in dem ein eingefrorenes Gericht für den Mittagstisch auftaute, dass sie befürchtete, der Glasbehälter im Inneren würde brechen. Aber er schien intakt geblieben zu sein, denn als sie die Kanne schüttelte, hörte sie keine Anzeichen für Scherben.
    „Ist etwas passiert?“, rief ihre Mutter in diesem vorwurfsvollen Unterton, der in jedem ihrer Worte mitschwang.
    Marie war daran gewöhnt, sie war damit aufgewachsen und hatte eine Engelsgeduld entwickelt. Doch mit der ging es langsam zu Ende, nicht was ihre Mutter betraf, sondern sie hatte genug von schlimmen Nachrichten. Die letzten Monate hatten ihr mehr zugesetzt, als sie zugab. Für ihre Familie versuchte sie stets stark zu bleiben. Für Daniel, vor allen Dingen für ihn, aber

Weitere Kostenlose Bücher