Leiden sollst du
als gehörte er zur Mordkommission dazu, aber das tat er nicht. Er knirschte so intensiv mit seinen Zähnen, dass sie wehtaten.
Die Zeit war immer ihr Feind, aber diesmal lag über ein Jahr zwischen Julias Verschwinden und dem Fund ihrer Leiche. Die Chance, jetzt noch Beweise auf ein Verbrechen zu finden, war gering. Das machte Daniel nur umso heißer, den Fall zu lösen. Er wollte sich darin verbeißen und erst dann Ruhe geben, wenn der Mörder gefasst war, wie vor seinem Unfall auch. Aber man ließ ihn nicht. „Vollzugsdienstunfähigkeit“ stand nun auf dem Deckel seiner Personalakte. Das sah er jedoch anders!
Während er schon überlegte, wie er am besten um seine Stelle beim KK 11 kämpfen konnte, griff Tomasz zum Hörer, doch bevor er wählen konnte, schwang die Tür auf.
Leander blieb im Eingang stehen. Sein Blick wechselte unsicher zwischen den beiden Kriminalkommissaren hin und her, bis er schließlich an Daniel hängen blieb.
Dieser versteifte sich. Etwas an Leanders Haltung ließ ihn nichts Gutes erahnen.
Die Schultern des Hospitanten waren so spitz, dass die Knochen durch sein Hemd zu erkennen waren. Er schüttelte unentwegt seine Hände, als beabsichtigte er etwas, das an seinen Fingern klebte, abzuschütteln, als hätte er sich die Finger gewaschen, aber kein Tuch zum Abtrocknen gefunden, weil der Spender leer war. Oder weil eine dringliche Nachricht ihn aus dem Toilettenraum geholt hatte. „Es ist etwas mit Ihrer Frau.“
„Mit Marie?“
Leander nickte.
9
Drei Stunden zuvor
Maries Puls schlug immer schneller, je näher sie dem Römisch-Germanischen Museum kam.
Als sie die Treppen vor dem Hauptbahnhof neben Benjamin hochstieg, rang sie nach Luft. Sie schob ihre Kurzatmigkeit darauf, dass sie den Crosstrainer, der unter dem Ehebett verstaubte, nicht mehr benutzte, da es ihr unangenehm war, in Daniels Anwesenheit Sport zu treiben, etwas, das er geliebt hatte. Aber das war gelogen.
In Wahrheit fühlte sich ihr Brustkorb an, als würde ein Hinkelstein darauf liegen und ihr das Atmen schwer machen.
Sie fürchtete sich davor, erwischt zu werden. Das war auch der Grund, warum sie in der Schule nie abgeschrieben hatte, niemals in der Bahn schwarzfuhr und nicht einmal eine Rolle Nähgarn aus dem Musical Dome mitgehen ließ. Nicht etwa, damit das Image der Bast-Familie in der Öffentlichkeit, auf das ihre Eltern und Großeltern großen Wert legten, keinen Schaden nahm. Sondern weil es sie so verlegen machte, wenn sie ertappt wurde, dass sie sich am liebsten in Luft auflösen würde.
Sie erinnerte sich an ein Erlebnis in ihrer Kindheit. Sollte jemand sie fragen, welches das schlimmste Erlebnis in ihrer Kindheit war, würde sie vermutlich dieses benennen. Schmerz hatte sie immer besser ertragen als Bloßstellung.
Bei ihrer zierlichen Figur nahm ihr das heutzutage niemand ab, wenn sie zugab, als Mädchen pummelig gewesen zu sein. Mit acht Jahren hatte ihre Mutter sie auf Diät gesetzt, damit sie sich auf Maries Erstkommunion ein Jahr später nicht für ihre Tochter schämen musste. Genau so hatte Irene Bast es formuliert, Marie klingelten die Worte heute noch im Ohr.
Nach der Kirche am Weißen Sonntag traf man sich im Garten der Villa Bast zu Kaffee und Kuchen, denn der April zeigte sich von seiner schönsten Seite. Unter dem strengen Blick ihrer Mutter traute sich Marie nicht, mehr als ein kleines Stück Obstkuchen zu essen, ohne Sahne selbstverständlich. Aber sie hatte Hunger, denn sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen.
Deshalb schlich sie sich heimlich in den Vorratsraum, wo die Kuchenreste aufbewahrt wurden. Die restlichen in Schokolade getunkten Erdbeeren, die zum Sektempfang gereicht worden waren, lachten sie besonders an. Sie griff in die Glasschale, nahm gierig eine Handvoll heraus und aß die erste Frucht. Sie war köstlich süß.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch.
Gerade noch rechtzeitig stopfte sie die verbliebenen Erdbeeren in die Bauchtasche, die in ihr Kleid genäht war, um dort den Rosenkranz und eine kleine Bibel zu tragen, aber den Inhalt hatte Marie bei ihrer Rückkehr nach Hause sofort abgelegt, weil er durch sein Gewicht den Stoff nach unten gezogen hatte.
Ihrer Mutter, die hereinkam und ihre braunen Haare genauso hoch toupiert hatte wie Cruella de Vil, fiel die Wölbung nicht auf, wohl aber die Schokolade in Maries Mundwinkel. Wütend zerrte sie Marie zu den Gästen und hielt ihr vor allen eine Standpauke, die Marie immer mehr
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