Leiden sollst du
schrumpfen ließ.
„Du willst doch wohl nicht wieder fett werden.“ Unentwegt zupfte Irene Bast genau dort an Maries weißem Kleid herum, wo es sich spannte. „Dicke Kinder wie du werden immer als Letztes in eine Sportmannschaft gewählt und sitzen auf dem Pausenhof alleine in einer Ecke, weil niemand mit ihnen spielen will. Willst du so sein? Willst du hässlich sein?“
Vor Verlegenheit wurde Marie speiübel. Sie schaute auf ihre Schuhspitzen.
Provokant schlug ihre Mutter auf Maries vermeintlich dicken Bauch. Doch es war kein Babyspeck, der den Stoff wölbte, sondern die Erdbeeren. Maries Kommunionkleid färbte sich rot, genau über ihrem Unterleib.
„Die hat vor Stress ihre Periode bekommen“, hörte sie die Gäste tuscheln. „Welch ein frühreifes Früchtchen! Mit der werden ihre Eltern noch Probleme bekommen.“
Entsetzt riss Marie Augen und Mund auf. Ihr Kopf glühte, Tränen rannen über ihre heißen Wangen und sie wünschte sich, auf der Stelle zu sterben. In diesem Moment nahm sie sich vor, nie wieder etwas zu tun, das verboten war.
Sie blieb schlank, war aber trotzdem nicht beliebter in der Schule gewesen. Ihren ersten Freund hatte sie erst mit achtzehn, ihren ersten Sex mit einundzwanzig, viele Jahre später als die meisten ihrer Freunde. Daniel war erst der zweite Mann, mit dem sie jemals geschlafen hatte, eine Tatsache, die sie ihm verschwieg, weil sie sich ohnehin wunderte, dass er sich in sie verliebt hatte. Was fand ein richtiger Kerl an einer steifen Langweilerin wie ihr?
Sie ging neben Benjamin um die Kathedrale herum, bahnte sich ihren Weg durch Schulkinder in bunten Regenjacken, die sich auf der Domplatte um ihre Lehrerin versammelten, um das Wahrzeichen Kölns zu besichtigen oder sogar bis in den Glockenturm hinaufzusteigen, und eilte vorbei an einem Mann, der als Zinnsoldat verkleidet war und starr auf einem silbernen Podest stand. Der Nieselregen perlte zwar von seiner Verkleidung ab, aber er schien keinen Pullover darunter zu tragen, denn das Schild, das auf die Darbietung von „Der Zauberer von Oz“ eines kleinen Independent-Theaters hinwies, zitterte, was für seine Absicht, eine Statue zu imitieren, nicht gerade förderlich war. Aber die Werbung funktionierte dennoch. Nicht nur Marie schaute ihn mitleidig a.
Der September war fast vorüber und der Herbst zog langsam in Köln ein.
Marie fröstelte ebenfalls, aber nicht etwa, weil ihr gefütterter Blazer dem Wind, der über den Vorplatz des Doms toste, nichts entgegenzusetzen hatte, sondern weil sie nicht wusste, was auf sie zukam. Sie mochte es, alles stets unter Kontrolle zu haben. Generell fand sie Überraschungen zwar nett, aber sie verunsicherten sie und das gefiel ihr nicht.
Noch weniger, wenn es darum ging, etwas zu entwenden, das an einem Ort versteckt war, an dem alle nervös waren. Sie befürchtete, dass die Museumswächter dachten, sie planten, ein Ausstellungsstück zu stehlen. Ob die Wärter Waffen trugen?
Marie hatte keine Übung darin, Menschen zu täuschen. Aber wie sah es mit Ben aus? Noch immer spukte in ihrem Kopf herum, was er gesagt hatte. Nachdem sie hinter dem Dom um die Ecke gebogen waren und der Eingang des Römisch-Germanischen Museums in Sichtweite kam, hielt sie ihn an der Schulter fest und blieb stehen. „Du hast etwas von weiteren Straftaten erwähnt.“
„Hä?“ Er reckte seinen langen Hals aus dem hochgeschlagenen Kragen seiner Jacke wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer und verlagerte vor Kälte oder Aufregung sein Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen.
„Du meintest, ins Museum einzusteigen ...“, ob er das tatsächlich in Erwägung gezogen hatte oder der Gedanke lediglich Ausdruck seiner Hilflosigkeit gewesen war, wusste sie nicht, „wäre nicht die erste kriminelle Handlung, die du begangen hast.“
„Ach so, das.“ Er verzog sein Gesicht, als bereute er es, nicht den Mund gehalten zu haben. „Der Patron hat mich schon in fremde Keller geschickt, auch in eine Sporthalle und ein Schrebergartenhaus.“
„Auf Privatgrundstücke.“ Für Marie erweckte es fast den Anschein, als wollte GeoGod, dass Benjamin bei einem seiner Aufträge erwischt wurde. „Und du hast dich nie geweigert?“
„Am Anfang war es nur ein Spaß, Nervenkitzel eben, mehr nicht.“ Sein Teint war aschfahl.
„Das sehen die Eigentümer sicherlich anders.“
War das Regen oder Schweiß, das auf seiner Stirn feucht schimmerte? „Ich habe niemanden erschreckt oder wehgetan, auch nichts
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