Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
Vom Netzwerk:
Kranich“, flüsterte Marie und konnte es kaum fassen. Sie hielt das Telefon einer Toten in der Hand.
    Wie sie bei Ben mitbekam, legten Teenager es nur zum Duschen und zum Schlafen weg, ansonsten trugen sie es am Körper und tippten ständig Nachrichten, schauten stündlich in sozialen Netzwerken nach, ob es Neuigkeiten gab, oder surften aus Langeweile im Internet. Julia hatte bestimmt keine Ausnahme dargestellt. Das bedeutete aber auch, dass sie es auf der Party vor dreizehn Monaten dabeigehabt haben musste. Es machte nicht den Anschein, als hätte es im Wasser gelegen. Vielleicht hatte sie es auf der Party verloren. Oder es war ihr gestohlen worden. Aber von wem? Und warum hatte man es ihr, Marie, zukommen lassen und nicht der Polizei oder Julias Familie?
    Marie war nicht wohl bei dem Gedanken, die Aufmerksamkeit von irgendwem erregt zu haben. Wusste derjenige, dass Ben mit Julia befreundet gewesen war? Oder dass Daniel seine alten Kollegen von der Kripo nach dem Mädchen gefragt hatte? War sogar Benjamin selbst es gewesen, der ihr Julias Handy zugespielt hatte? Immerhin hätte er leicht an ihren Wagenschlüssel kommen können.
    Erneut schaute sie sich um. Nichts außer Dunkelheit. Sie erschauderte.
    Rasch klickte sie sich durch die Verzeichnisse. Sie entdeckte einige SMS, die Julia mit Ben ausgetauscht hatte. Es war unschwer herauszulesen, dass sie ein wenig verknallt in ihn gewesen war, doch er hatte sie auf Distanz gehalten. Er hatte nie unhöflich geantwortet, sondern ausweichend, freundschaftlich und sensibel.
    Als Marie die Fotos betrachtete, staunte sie nicht schlecht. Das Mädchen schien in jeder Situation fotografiert zu haben, wohl um schöne Momente festzuhalten, denn meistens waren lachende junge Menschen abgelichtet, vermutlich ihre Freunde.
    Marie merkte nicht sofort, dass sie sich längst Schnappschüsse von der schicksalhaften Party ansah, sondern erst als sich Julia selbst unter dem Schild der Volksküche stehend – zwei nebeneinander an der Wand aufgehängten Bratpfannen voller angebranntem Fett, auf denen mit weißer Farbe „Vokü“ und „Porz“ gepinselt worden war – aufgenommen hatte.
    Sie trug blutroten Lippenstift und Smokey Eyes, die sie blass wirken ließen, und ein freizügiges blaues Top. Der Anhänger ihrer Kette verschwand zwischen ihren nach oben gepushten Brüsten. Das alles passte nicht zu ihr. Sie sah aus wie eine überzeichnete Version ihrer selbst, als hätte sie versucht, in dieser Nacht eine andere Person zu sein.
    Zuerst zeigten die Aufnahmen eine bunte Mischung aus Gästen, die eigentlich gar nicht zusammenpassten. Einige der Personen auf den Bildern sahen wie Schüler und junge Studenten aus, andere waren alternativ gekleidet, trugen Dreadlocks oder Nasenringe, manche wirkten wie Obdachlose, andere spießbürgerlich, als wären sie zufällig an der Vokü vorbeigekommen und hätten reingeschaut, weil der Blick in diese andere Welt ein Abenteuer für sie darstellte. Harmonisch schienen sie miteinander zu feiern.
    Doch auf immer mehr Fotos fielen Marie glasige Blicke auf. Eine Shisha stand auf einem Tisch. Joints wurden so selbstverständlich in die Kamera gehalten wie Zigaretten. Sie glaubte, eine Crackpfeife zu erkennen, war sich aber nicht sicher, da eine riesige Pranke sie festhielt und das meiste verdeckte. Julia hatte sogar ein Paar beim Sex abgelichtet, in einer von wenigen Teelichtern erhellten Ecke des Kellers.
    Woher das Kabel stammte, mit dem später der Betonblock an ihren Fuß gebunden wurde, wie Daniel Marie erzählt hatte. Aufstöhnend wischte sie sich über die Stirn und klickte rasch weiter.
    Plötzlich kam ihr jemand bekannt vor. Sie hielt das Display dicht vor ihre Augen. Obwohl der Mann abwehrend eine Hand hochhielt, war er zum größten Teil gut zu erkennen. Er hatte einen Dreitagebart, vielleicht um seine schlecht verheilten Aknenarben auf den Wangen zumindest teilweise zu überdecken. Seine schwarzen Haare klebten dank Gel an seinem Kopf wie eine Teerschicht. Die Collegejacke ließ ihn jünger wirken. Seine Kleidung war sauber, leger und ordentlich, aber sein Gesicht wirkte verbraucht, als hätte er schon viel durchgemacht. Sie schätzte ihn auf Ende vierzig.
    Aber wo hatte sie ihn schon einmal gesehen?
    Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Als Gerichtszeichnerin konnte sie sich Merkmale gut einprägen und das auffällige Äußere des Mannes ließ etwas bei ihr klingeln. War er vielleicht bei einem Prozess anwesend gewesen und sie hatte ihn nur am

Weitere Kostenlose Bücher