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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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Putz genagt. Marie vermutete, dass die anstehenden Herbststürme den Rest auch noch abnagen würden, sodass es bald nackt inmitten der Industriesiedlung stand, dem Frost ausgeliefert, der es noch in diesem Winter zu Fall bringen könnte.
    Eine Jalousie im Erdgeschoss war nur noch an einer Seite befestigt, die andere hing über der milchigen Fensterscheibe wie das hängende Augenlid von Karl Dall. Jemand hatte den Firmennamen aus Messingbuchstaben mit Graffiti übersprayt und dieses wiederum war halbherzig mit wässriger brauner Farbe übermalt worden, sodass die Tür wie die Haut eines Leprakranken aussah.
    Zuerst hatte Marie gar nicht eintreten wollen, aber nun war sie schon einmal drin und nahm sich vor, ihre Suche nach Antworten auch weiterzuführen. Immerhin hatte sie eine Spur, eine, die vielversprechend erschien. Ihr Puls schlug einen Takt schneller.
    Sie zog den Ärmel ihrer Jacke über die Hand und hielt diese vor Mund und Nase. Vorsichtig ging sie weiter den Gang entlang, stieg über Unrat und schwarzbraune Haufen, die, so hoffte sie, von Tieren stammten, und lauschte. Nichts.
    Sie hatte erwartet, einen Mitarbeiter der Sozialküche anzutreffen, um ihm das Foto des Mannes, den sie unbedingt finden musste, zu zeigen. Aber hier war niemand mehr. Die Vokü schien geschlossen und das Haus war verwaist.
    Auf den zwei tragbaren Elektrokochfeldern, die an der einstigen Rezeption des Betriebes als provisorische Küche gedient hatten, standen noch die Pfannen und Töpfe. Sie waren derart schwarz, verkrustet und schimmelig, dass niemand sie hatte stehlen wollen. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter hatten offenbar das gesamte Interieur einfach zurückgelassen, als wäre es mit einem bösen Fluch belegt.
    Was mochte sie dazu veranlasst haben?
    Zögerlich streckte Marie ihre Hand nach der Kühlschranktür aus. Sie öffnete sie langsam, um herauszufinden, wie lange die Volksküche schon verlassen war, bemerkte, dass die Lampe im Inneren nicht brannte, und stockte. Es lag nur eine einzige Flasche darin. Schnaps – klar, billig und brannte im Rachen wie Feuer, hatte Marie einmal leidlich festgestellt. Doppelkorn las sie auf dem Etikett und hoffte, dass die roten Schmierflecken darauf von Marmelade stammten. Sie fasste den Boden an und stellte fest, dass er warm war. Der Kühlschrank hatte keinen Strom.
    Plötzlich blaffte eine Frau hinter ihr: „Finger weg! Das Zeug ist meins.“
    Marie flog herum, als hätte man sie geschlagen. Ihr Herz pochte vor Schreck schmerzhaft in ihrem Brustkorb. „Ich wollte nicht ...“
    Die Frau stieß sie beiseite, griff gierig den Kornbrand und drückte ihn wie ein Baby an sich. Ihre rechte Hand war mit einem dünnen Baumwollschal bandagiert, durch den weißen Stoff mit den roten Herzen sah man das Blut darunter. Entweder hatte sie sich in die Handfläche geschnitten oder war mit jemandem tätlich aneinandergeraten.
    Misstrauisch wollte Marie Abstand zwischen sich und die Fremde bringen, aber sie saß in der Falle, gefangen zwischen Empfangstheke und zwei Wänden. Die Fremde schnitt ihr den Fluchtweg ab, indem sie im Durchgang stand.
    „Gully trinkt nicht aus der Flasche. Sie ist keine von diesen Pennern, die sich nicht benehmen können.“ Verklärt lächelnd schraubte die Obdachlose den Verschluss ab, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger fest und spreizte ihren kleinen Finger ab. Sie goss den Drehverschluss voll mit dem achtunddreißigprozentigen Edelkorn und kippte die klare Flüssigkeit ihre Kehle hinab.
    Marie fiel auf, dass die Frau nur Sandalen trug, und nahm sich vor, ihr ihre alten Stiefel vorbeizubringen, denn gegen die drohende Kälte halfen ihre grauen Wollsocken herzlich wenig. Auch ihr türkisfarbener Jogginganzug war viel zu dünn. Ihre dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten, aber die Strähnen waren so unterschiedlich lang, dass Marie sicher war, dass sich die Fremde die Frisur selbst geschnitten hatte, womöglich im Suff mit einer Glasscherbe. Denkbar, dass sie sich dabei an der Hand verletzt hatte. „Gully?“
    Die Frau schlug sich mit der Faust so hart gegen die Brust, dass Marie Phantomschmerzen bekam, doch sie selbst zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Hab mal in der Kanalisation geschlafen, aber jetzt wohne ich hier.“
    Leider roch Gully noch immer danach. Der Gestank nach Urin und Schweiß brannte in der Nase, aber Marie wandte sich aus Höflichkeit nicht ab. „Ich suche einen Mitarbeiter der Volksküche.“
    „Alle weg. Es kamen keine Gäste mehr, dann

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