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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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jemanden zu finden. Meinen Onkel. Sein Bruder, mein Vater, liegt im Sterben und, also, er möchte ihn noch einmal sehen.“
    Gully legte ihren Kopf schräg und runzelte argwöhnisch ihre Stirn.
    Marie wusste, dass sie eine schlechte Lügnerin war, aber eine bessere Ausrede war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. „Ich habe ein Foto von ihm dabei. Das hätte ich nicht, wenn wir nicht verwandt wären, oder?“
    Sie holte Julias Smartphone heraus, rief das letzte Foto auf, das das Mädchen geschossen hatte, und holte mithilfe des Touchscreens das Gesicht des Fremden, der im Hintergrund stand, so weit heran, dass Maik und Denis nicht mehr darauf zu sehen waren. Zusammen mit einem weiteren Euroschein hielt sie Gully das Display hin.
    Die Hand der Obdachlosen zuckte so schnell nach vorne, dass Marie erschrak, doch sie entriss ihr nur das Geld. Ohne zu zögern steckte Gully es ein, drückte die Flasche zwischen ihre Brüste und wiegte hin und her. Doch ihre Miene verriet, dass sie noch immer angespannt war.
    Marie erschauderte. Sie führte das auf die Kälte zurück, die der Abend mit sich brachte. An diesem Tag würde es früh dunkel werden, denn die Regenwolken hingen so tief, dass sie aufs Gemüt drückten.
    „Das Foto“, erinnerte sie Gully.
    Sie befürchtete, dass die verwahrloste Frau bereits zu betrunken war. Außerdem war das Bild recht unscharf, nun, da sie es vergrößert hatte.
    Doch als Gully auf das Telefon schaute, ihre Mundwinkel nach oben zog und triumphierend strahlte, wusste Marie, dass sie den Mann gefunden hatte.
    „Das ist Schnapper. Er heißt so, weil der Scheißkerl alles einsteckt, was er kriegen kann: Taschenuhren, Geldbörsen, Schnaps, Essen, Kinder ...“
     

17
     
    Maries Herz blieb fast stehen. „Wie meinen Sie das mit den Kindern?“
    „Er hat kleinen Mädchen in die Unterhosen geguckt. Irgendwann reichte ihm das nicht mehr, und er hat nicht nur am Pfirsich gerochen, sondern ihn auch gepflückt.“ Gully grinste breit, als spräche sie von etwas Lustigem. „Dabei wurde er erwischt und ging in den Bau. Seitdem kriegt er kein Bein mehr auf den Boden und lebt in der Gosse.“
    Hatte er sich an Julia vergriffen? Sie war zwar schon siebzehn gewesen, hatte aber jünger ausgesehen. In dem Minirock und dem engen Oberteil hatte er in ihr vielleicht eine verführerische Lolita gesehen, ein blutjunges Mädchen, das sich sexy angezogen hatte, um älter zu wirken. Als sie nach dem Streit – mit Mike Schardt oder Maik und Denis oder Benjamin – die Party verließ, übernahmen seine kranken Triebe eventuell die Kontrolle über ihn und er war Julia gefolgt.
    „Wo finde ich ihn?“ Aufgebracht warf Marie das Mobiltelefon in ihre Handtasche. Sie war wütend und spürte das Verlangen, Schnapper schnellstmöglich zu stellen und zu befragen. Das erste Mal erfuhr sie am eigenen Leib, wie es sich anfühlte, wenn der Jagdinstinkt erwachte. Nun verstand sie noch besser, warum Daniel Polizist geworden war. Die Umgebung trat in den Hintergrund, sie konzentrierte sich auf Gully und spürte nur das Kribbeln in ihren Füßen, weil diese endlich losrennen und den Obdachlosen finden wollten. „Wo ist er?“
    Das Lächeln verschwand aus Gullys Gesicht. Sie nahm wohl die Veränderung in Marie wahr, sichtlich überrascht darüber, dass das dünne Persönchen vor ihr, das bisher eingeschüchtert von der ungewohnten Umgebung war, plötzlich so selbstbewusst auftrat. Zögerlich zeigte sie über das leer stehende Verwaltungsgebäude der Speditionsfirma hinweg zu zwei Hochhäusern, die hinter dem Industriegebiet herausragten und die Grenze zum Wohngebiet darstellten. „Der Hausmeister dort hat Mitleid mit Schnapper. Der lässt ihn liegen, wenn er in irgendeiner Ecke schläft, solange sich keiner der Mieter beschwert, aber es wohnen eh nicht mehr viele da. Die haben nämlich Schimmel an den Wänden. Das habe ich auch, aber muss wenigstens nix bezahlen.“
    Mit diesen Worten verschwand Gully zwischen den Bäumen und mannshohen Sträuchern. Marie schaute ihr hinterher, sah aber nur, wie die Büsche hin und her wiegten.
    Aufgeputscht machte sie sich auf den Weg. Sie stieg durch den Durchbruch in der Mauer auf das Nachbargrundstück, eilte über den Hof und trat durch den Eingang auf die Straße hinaus. Das Tor fehlte. Hinweise auf Vandalismus erkannte sie jedoch nicht. Es schien einfach aus den Angeln gehoben worden zu sein. Ob der ehemalige Besitzer alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen hatte? Oder

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