Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
Vom Netzwerk:
So abwegig war der Gedanke nicht, fand Marie, wenn man bedachte, mit wem er es beruflich zu tun gehabt hatte. Offenbar hatte der Achtundvierzigjährige auch privat Kontakt zu den Außenseitern der Gesellschaft gesucht, war er doch durch seine einstige Alkohol- und Drogenabhängigkeit und seinen Gefängnisstrafe selbst einer von ihnen gewesen. Und dann war da noch die denkbare Rache der fünf Punker, die er wegen der brutalen Vergewaltigung einer einundzwanzigjährigen Obdachlosen hinter Gitter gebracht hatte.
    Möglicherweise war es nicht Gully, die die Augen vor der Wahrheit verschloss, sondern Marie selbst.
    Sie wunderte sich darüber, dass die Wohnungslose den Weg durch den verwilderten Garten so leicht fand, als hätte sie schon immer hier gelebt. Marie selbst verlor sich zwischen den Bäumen und Sträuchern ringsherum und sie erahnte nur, wo sich das Rheinufer befand, weil es gegenüber vom Haus liegen musste und sie in der Ferne das mühsame Tuckern eines Binnenschiffes hörte, das eine schwere Fracht geladen haben musste. Kein Wunder, dass die ermittelnden Polizisten damals davon ausgegangen waren, Julia wäre betrunken ins Wasser gefallen und von der Strömung unter die Oberfläche gezogen worden.
    Plötzlich hielt Gully an, Marie wäre beinahe auf sie geprallt. „Da ist das Flittchen abgemurkst worden.“ Sie zeigte durch eine große Lücke in der Mauer auf das Nachbargrundstück. Der Betrieb dort war augenscheinlich stillgelegt. Es herrschte eine bedrückende Leere auf dem Hof. Ein toter Hase lag mitten auf dem Asphalt. Jemand hatte alle Fenster im Untergeschoss des Firmengebäudes kaputt geschlagen.
    Marie wurde flau. Es hatte aufgehört zu regnen, aber Wind war aufgekommen und riss an dem rot-weißen Flatterband aus Polyethylen, mit dem die Polizei die Stelle am Ufer großzügig abgesperrt hatte. Glücklicherweise, so empfand Marie es, sah man nichts weiter als lehmigen Boden, da der Erkennungsdienst längst die Oberschicht abgetragen hatte, um ihn im Labor weiteren Untersuchungen auf Spuren zu unterziehen. „Warum hat man die Stelle vorher übersehen?“
    Gully zuckte mit den Achseln, verschüttete dabei die Flüssigkeit, die sie gerade erst in ihr provisorisches Schnapsglas eingeschenkt hatte, und merkte es nicht einmal, da sie zum Absperrband schaute und schon beschwipst lallte. „Früher lag da Grillkohle, mit Motorenöl begossen, sodass es wie ein schwarzer Scheißhaufen aussah. Darunter fanden die Bullen das Blut und so weiter.“
    Marie hob die Hand, damit Gully nicht genauer beschrieb, was sie mit „und so weiter“ meinte. Zu wissen, dass keine sechs Schritte von ihr entfernt eine junge Frau brutal geschändet, misshandelt und umgebracht worden war, war schon schlimm genug. Dass es sich dabei um eine Siebzehnjährige handelte, die Marie gekannt hatte, wenn auch nur flüchtig, weckte in ihr ein unbekanntes Grausen. Angewidert wandte sie sich ab. „Wie ist das Kriminalkommissariat nach mehr als einem Jahr darauf gekommen, darunter nachzuschauen?“
    „Vielleicht haben sie einen Tipp bekommen. He, nicht von mir, dass das klar ist!“ Gully schraubte die Flasche zu und packte den Hals mit beiden Händen, als wollte sie Marie damit schlagen, sollte sie etwas anderes behaupten. „Oder es hat bei denen endlich mal einer seinen Verstand eingeschaltet.“
    Marie trat einige Schritte zurück. Etwas zerbrach unter ihren Schuhen. Kurz sah sie hinab, um ihren Blick sofort wieder auf Gully zu richten. Sie war auf eine Spritze getreten, in der noch die Nadel steckte. Blut klebte in der Kunststoffröhre. Angewidert rümpfte Marie ihre Nase.
    „Die Göre wurde hier ermordet, na und? Plötzlich wollte keiner mehr in der Vokü essen. Der Fraß war fad, aber fast geschenkt. Jetzt ist der Schuppen zu und ich muss wieder Mülltonnen durchwühlen. Mit dem Zeug töte ich die Bakterien ab.“ Beiläufig deutete Gully auf den Korn. „Nicht mal die Penner wollen hier wohnen. Dabei kommt der Winter. Diese Idioten! Umso besser für mich. Das ist jetzt mein Reich, meins ganz alleine.“ Gullys Augen wurden mit einem Mal zu Schlitzen. „Warum stellst du so viele Fragen? Wer bist du?“
    „Sie haben angefangen, von dem ermordeten Mädchen zu erzählen“, stellte Marie klar und versuchte, nicht ängstlich zu wirken. Am liebsten hätte sie diesen dahinsiechenden Ort verlassen, doch sie durfte nicht gehen, ohne eine weitere Brotkrume der Spur, die zu GeoGod führte, aufgespürt zu haben. „Ich bin nur hier, um

Weitere Kostenlose Bücher