Leiden sollst du
machte die Vokü dicht.“ Mit dem Ärmel wischte sich Gully die Spucke aus den Mundwinkeln. „Elende Feiglinge! Als ob die Göre hier herumspuken würde.“
Marie horchte auf. „Welche Göre?“
„Na die, die hier getötet wurde. War angezogen wie eine kleine Hure. Hat wohl mit ihrem Arsch ein paar Mal zu viel gewackelt.“ Gully spie die Worte förmlich aus, sodass Speichelfetzen herumflogen.
Mit einem Mal fühlte sich Maries Haut wie elektrisiert an. „Dann waren Sie auf der Party, nach der Julia Kranich verschwand?“
„Gully hat zu ihr gesagt: Zieh dir was an, Mädchen. Wenn du was in die Auslage packst, greifen die Kerle zu, ob du das willst oder nicht.“ Sie gönnte sich einen weiteren Kurzen, trank den Korn wie Wasser und schmatzte genüsslich. „Die Gören halten das alles für einen Spaß, laufen halb nackt rum wie die Weiber in Pornos oder in Musikvideos. Aber anders als diese prominenten Schlampen haben die keinen, der auf sie aufpasst und sie vor Verrückten schützt.“ Erneut kippte sie einen Korn aus dem Verschluss ihren Rachen hinab. „Frischfleisch – knackig, frisch und strunzdumm.“
Maries Magen zog sich zusammen und verhärtete sich. „Haben Sie einen Mann an Julias Seite gesehen? Ist sie mit jemandem weggegangen?“
„Gully hat aus Prinzip nichts gesehen. Ist gesünder.“
Einen Moment haderte Marie, dann holte sie einen Schein aus ihrem Portemonnaie.
Gullys Augen weiteten sich. Sie strahlte und steckte ihn hastig ein. Verschwörerisch senkte sie ihre Stimme. „Sie hat sich mit diesem Typ gestritten, der hier ab und zu essen kam, obwohl er sich was Besseres leisten konnte. Aber alle sind geizig, selbst die Reichen. Find das zum Kotzen, denn es gab immer nur wenige Portionen. Wenn die weg waren, waren die weg. Sollen in ihre teuren Schuppen gehen und nicht uns auch noch alles wegfressen. Wir können uns nämlich nichts anderes leisten als diese Pampe.“ Aufgebracht von ihrer eigenen Rede boxte sie eine der Pfannen von den portablen Kochplatten, die an der Wand neben dem Kühlschrank auf einem Tisch standen. Diese flog scheppernd gegen einen Topf. „Die Kleine wollte etwas von Mike, aber er sagte, er sei privat da, zum Feiern, und sie soll ihn in Ruhe lassen.“
Der Streetworker, durchfuhr es Marie. Hatte sich die Situation hochgeschaukelt? War er gewalttätig geworden, um Julia loszuwerden, und dabei ausgeflippt? Bestimmt sammelte sich in seinem Beruf viel Frust an, denn seine Klientel war nicht gerade einfach. „Wissen Sie, worum es bei dem Streit ging?“
„Nö, war viel zu laut hier drin. Er sollte ihr bei irgendetwas helfen oder so, mehr verstand Gully nicht. Hat ihr nicht geholfen. Dabei ist der Arsch doch Sozialarbeiter. Da muss es doch einen Ehrenkodex oder so ’n Scheiß geben. Die haben doch nie frei, genauso wie Pfarrer und Ärzte. Er hat sie abgeschüttelt wie eine lästige Schmeißfliege, sie ist hingefallen und er hat sich entschuldigt, hat ihr aber nicht hochgeholfen, sondern ist weggegangen.“ Als sie den Verschluss füllte, goss sie ihn diesmal so voll, dass der Korn über den Rand schwappte, sich über ihre Sandale ergoss und von ihrer Socke aufgesaugt wurde.
„Mist! So eine Verschwendung.“ Rasch trank sie, was übrig geblieben war. „Da draußen hat Mike die Göre abgemurkst. Soll Gully es dir zeigen?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, durchquerte sie schwankend das Gebäude und stolperte in die Außenanlage hinaus. Während Marie ihr folgte, die Arme ausgestreckt, um Gully aufzufangen, sollte sie stürzen, stellte Marie klar: „Ich glaube nicht, dass er es war. Er kann sich allerdings nicht mehr dazu äußern, denn er ist tot.“
Als Gully sie skeptisch über die Schulter hinweg ansah, dabei jedoch nicht anhielt, wankte sie gefährlich. „Woher willste das wissen, warste dabei?“
Da die Obdachlose nun doch stehen blieb und sich ihre Miene verdüsterte, fügte sie rasch hinzu: „Das stand in der Zeitung.“
Schnaubend torkelte Gully weiter und bahnte sich einen Weg durch das wild wuchernde Gestrüpp. „Behalte das ja für dich. Wenn sie hören, dass der Mörder tot ist, kommen sie alle zurück und wollen wieder hier wohnen.“
Marie schüttelte den Kopf und fragte sich, wie vertrauenswürdig Gully war. Was waren die Informationen wert, die sie ihr gab, wenn die Bedeutung von Maries Worten schon nicht mehr zu ihr durchdrang?
Oder hatte sie recht und Mike hatte Julia umgebracht, war am Ende aber selbst Opfer eines Verbrechens geworden?
Weitere Kostenlose Bücher