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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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hatte der Insolvenzverwalter sogar die Pforte zu Geld gemacht, um die Schulden der Spedition zu tilgen?
    Noch während sie darüber nachgrübelte, kam sie an den zwei Hochhäusern an. Sie waren absolut identisch und so eng aneinandergebaut, dass sie wie siamesische Zwillinge wirkten. Viele der Wohnungen waren nicht vermietet, was Marie daran erkannte, dass die Gardinen oder Jalousien an den Fenstern fehlten und in den Räumen hinter den schmutzigen Scheiben gähnende Leere herrschte. Trostlosigkeit lag über dem gesamten Viertel. Sie vermutete, dass das Industriegebiet und die angrenzenden Häuser über kurz oder lang abgerissen werden würden, um Platz für ein modernes, teures Wohnviertel zu schaffen, denn die Grundstücke in Rheinufernähe waren heiß begehrt. Was würde dann aus Gully werden?
    Es dämmerte bereits. Die tief hängenden Regenwolken wurden immer schwärzer. Der Abend würde früh hereinbrechen. Marie ärgerte sich darüber, dass sie ausgeschlafen und erst nach dem Mittagessen in die City gegangen waren, um Benjamin neue Kleidung zu kaufen. Kurz überlegte sie, ob sie die Suche nach Schnapper am nächsten Tag fortsetzen sollte. Aber nachts würde sie ohnehin nicht schlafen können, denn ihre Eltern hatten ihr beigebracht, Dinge, die es zu erledigen gab, sofort anzugehen. Ein weiteres moralisches Familienerbe, das sie ständig unter Druck setzte, denn es gab immer etwas zu erledigen. Daniel beineidete sie darum, stets alles unter Kontrolle zu haben, wo er doch eher chaotisch veranlagt war. Wie konnte er auch wissen, dass sie aufgrund ebenjener gelobten Charaktereigenschaft ständig unter Strom stand? Man hatte sie schließlich gelehrt, äußerlich die Haltung zu wahren. Sie hatte kein Problem damit, Daniel ihre Liebe zu zeigen oder bei einem Film vor Rührung zu weinen. Negative Gefühle jedoch hielt sie unter Verschluss, weil sie dadurch verletzlich wurde.
    Auch jetzt sah sie für einen der Mieter, der zufällig aus seinem Apartment auf die Straße schaute, wie eine ruhige, unauffällige junge Frau aus, die die Zwillingsgebäude betrachtete, zum Beispiel weil sie eine neue Bleibe suchte. In diesem Fall nutzte sie dies als ihren Vorteil. Betont gelassen schlenderte sie umher und warf einen – schon weniger – unauffälligen Blick in den Unterstand für die Mülltonnen, doch Schnapper fand sie dort nicht.
    Vielleicht saß er im Hauseingang. Es war zwar schon einige Zeit trocken geblieben, aber es drohte, erneut zu regnen. Er würde sich auf jeden Fall einen überdachten Schlafplatz gesucht haben.
    Beim ersten Gebäude fand sie ihn nicht. Sie rüttelte an der Tür. Verschlossen. Ihr Herz pochte, als wollte es gegen die List protestieren, aber Marie klingelte dennoch hier und da, um hereingelassen zu werden und im Vorraum nachschauen zu können. Aber niemand öffnete ihr oder meldete sich über die Gegensprechanlage. Offenbar wollten die Bewohner in Ruhe gelassen werden. Vielleicht weil hier nur Gerichtsvollzieher und Drückerkolonnen klingelten.
    Marie fühlte sich immer unwohler. Porz hatte seine schönen Ecken, diese Gegend zählte nicht dazu. Sie siechte dahin. Schnapper im Alleingang zu befragen war riskant. Sollte er sie angreifen, würde ihr niemand zu Hilfe kommen, da war sie sich sicher. Sie führte ihre Hand in ihre Umhängetasche und ließ sie dort, damit niemand mitbekam, dass sie ein Pfefferspray umschloss.
    Innerlich aufgewühlt ging sie den Weg zurück, umrundete das Rasenstück, das sie vermuten ließ, dass dem Hausmeister nicht nur egal war, ob Schnappers Anwesenheit die Mieter störte, denn augenscheinlich sammelte sich der Müll im Vorgarten nicht erst seit heute. Sie bog in den Weg ein, der zum zweiten Hochhaus führte – und stoppte abrupt.
    Drei Jugendliche hingen davor ab.
    Sichtlich gelangweilt trat der fülligste Stück für Stück Putz von der Mauer ab. Ob er sein graues T-Shirt absichtlich zu groß gekauft hatte, damit es seinen Bauch verbarg? Die Naht auf seiner rechten Schulter löste sich auf, der Stoff hatte bereits ein Loch. Seine Haare hatte er so kurz rasiert, dass seine schneeweiße Kopfhaut hindurchleuchtete.
    Der dünnste trug eine weiße Baseballmütze mit dem roten Werbeslogan eines Getränkeherstellers. Über seinen Ohren wies sie dunkle münzgroße Flecken auf; fettige Fingerabdrücke, die er hinterließ, wenn er das Werbegeschenk zurechtrückte. Er fischte einen Brief aus einem der Postkästen neben der Aluminiumtür, zündete ihn mithilfe eines Feuerzeugs an

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