Leiden sollst du
Garn die Augen zugenäht und die Vorderpfoten abgetrennt.
Der weißen mit den braunen Ohren – Marie erkannte sie wieder – Aber wie war das überhaupt möglich? – waren die Schnauze mit einem Kreuzstich verschlossen und die Hinterpfoten abgeschnitten worden.
Die dritte hatte man vom Schwanz bis zum Kopf aufgeschnitten. Ihre drei ungeborenen Babys lagen neben ihr. Sie schienen zertreten worden zu sein und waren kaum noch zu erkennen.
Ben trat neben Marie. „Kobold!“ Sein Schrei hallte von den Wänden wider und tat nach der Stille regelrecht weh in Maries Ohren. Tränen strömten über seine Wangen. Er wollte zu seiner Hausratte laufen, doch Daniel hielt ihn davon ab, indem er seinen Rollstuhl quer stellte. „Tu dir das nicht an.“
„Du kannst nichts mehr für ihn tun.“ Behutsam berührte Marie den Arm ihres Cousins. Er bebte.
Hemmungslos schluchzend riss er sich los und rannte hinaus. Marie hörte, dass er sich im Korridor übergab. Während sie wie gelähmt dastand, würgte er noch einige Male, dann entfernten sich seine Schritte. Kurz darauf krachte die Eingangstür zu.
Marie schlug die Hand vor den Mund. Kobold war also doch nicht bei dem Brandanschlag auf die Wohnung der Mannteufels verbrannt. GeoGod musste Bens kleinen unschuldigen Freund vorher entführt haben – weil er andere Pläne mit ihm hatte. Er wollte, dass Benjamin sich mit Vorwürfen quälte, weil er glaubte, die Schuld and Kobolds Tod zu tragen, und dann brachte der Patron die Ratte ein zweites Mal um, diesmal tatsächlich, und vergrößerte damit Bens Elend noch.
Wie sehr musste er Ben hassen! Aber warum, um alles in Welt? Auch Maries Augen wurden feucht.
Daniel sprach leise, als wollte er die Ruhe der Toten nicht stören. „Jetzt haben wir den Beweis, dass es eine Verbindung zwischen dem Streetworker, dem Obdachlosen, Julia und Benjamin gibt.“
„Lass Ben da raus!“ Marie gab dem Bedürfnis nach, ihren Cousin zu beschützen. Er sollte nicht in einem Atemzug mit den drei Todesopfern genannt werden, als wäre er das nächste. „Die zwei Ratten wurden genauso präpariert wie Schardt und Schnapper. Aber was bedeutet die dritte?“
„Ein weiteres Opfer, das noch nicht gefunden wurde.“
Auf der einen Seite beneidete Marie ihren Ehemann für seine Stärke. Auf der anderen fragte sie sich, wie er die Situation so emotionslos analysieren konnte. Ihre Stimme dagegen zitterte. „Wer mag die Frau sein?“
„Julias Mutter vielleicht oder die eines weiteren Gegenspielers beim Geocaching.“
Hoffentlich nicht Heide, dachte Marie, schloss sie dann aber aus, da ihre Tante nicht in anderen Umständen war. „Stehen die großen Tiere stellvertretend für erwachsene Menschen?“
„Sieht so aus.“
„Und die Föten für Kinder?“ Für Spieler wie Ben?
Daniel fuhr seinen Rollstuhl neben sie. Er nahm ihre Hand, drückte sie sanft und küsste sie. „Vielleicht war es lediglich Zufall, dass eines der Tiere trächtig war. Im Rausch brachte er auch ihren Nachwuchs um, das muss nicht geplant gewesen sein.“
Für Marie klang das sehr danach, als versuchte Daniel, sie mit dieser Theorie zu beruhigen, weil er genau wusste, was das Szenario vor ihnen in Wahrheit bedeutete:
Der Täter wollte Benjamin unter seiner Schuhsohle zerquetschen wie eins der ungeborenen Rattenbabys.
GeoGod hatte bereits getötet, auf jeden Fall den Streetworker und den Obdachlosen und mit aller Wahrscheinlichkeit auch Julia Kranich. Er brachte sie aber nicht einfach nur um, sondern er tat ihnen vorher das an, was er mit Rattenblut an die Wand hinter dem Massaker geschrieben hatte. Es handelte sich um eine Drohung, ein erbarmungsloses Versprechen – um das Motto seines Spiels:
Leiden sollst du!
21
„Verdammt, Ben, rede mit uns!“, schrie Daniel hinter ihm her, doch der Achtzehnjährige verschwand in seinem Zimmer, ohne zu antworten oder auch nur kurz stehen zu bleiben. Laut fiel die Tür ins Schloss.
Auf der Heimfahrt von der ehemaligen Volksküche in Porz zu ihrem Apartment in der Südstadt hatte er versucht, etwas aus dem Jungen herauszukitzeln. Er musste mehr wissen, als er zugab. Selbst wenn nicht, Daniel glaubte zu spüren, dass Ben wenigstens eine Ahnung hatte, worum es GeoGod eigentlich ging.
Aber er hüllte sich in Schweigen und kapselte sich ab. Je mehr man ihn bedrängte, desto mehr zog er sich zurück. Bis zu einem gewissen Grad hatte Daniel das akzeptiert. Doch nun war Schluss damit! Nachdem Julias Leiche am Rheinufer angespült
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