Leiden sollst du
„Er spielt Spielchen, das ist alles.“
„Darum geht es ihm nicht alleine“, sagte Daniel schon etwas sanfter.
Maries Augen weiteten sich. Ihr war klar, dass der Patron etwas im Schilde führte. Sie war nicht so naiv, zu glauben, dass er spontan seinen nächsten Schritt entschied, sondern er musste einen Plan haben. Aber sie hatte das Gefühl, dass Daniel diesen ein Quäntchen mehr durchschaute als sie.
„Er wollte, dass Benjamin im Museum verhaftet wird. Sein Plan scheiterte.“ Während er seine Theorie erklärte, kraulte er seinen gestutzten Bart. „Also entschied er sich kurzfristig, Marie ins Boot zu holen. Dafür legte er einen Online-Account an, um ihr eine SMS zu schicken.“
„Und Ben“, warf Marie ein.
„Auf Julias Namen. Er legte Duplikate von ihrer Wäsche in die Caches.“ Daniel holte eine Stabtaschenlampe aus seiner neuen Tasche, die mithilfe eines Klettverschlusses an seiner rechten Armlehne befestigt war, schaltete sie aber nicht an, sondern hielt sie mit beiden Händen fest, wie einen Schlagstock. „Und jetzt führte er uns an den Ort, wo sie starb.“
„Alles weist auf Julia hin.“ Wollte GeoGod damit indirekt prahlen, das Mädchen getötet zu haben? Und gleichzeitig Ben Angst einjagen? Marie fürchtete sich jedenfalls vor dem großen Unbekannten. Bisher hinterließ er blutige Visitenkarten, aber keinen Hinweis auf seine Identität. „Vielleicht wollte er, dass wir dieses Fazit ziehen, das könnte seine ganze Botschaft gewesen sein.“
„Oder auch nicht.“ Daniel klemmte die Lampe zwischen seinen Oberschenkeln ein, rollte an Marie vorüber und spähte in den nächsten Raum. Tische und Stühle standen dort ordentlich zusammengestellt, als warteten sie auf Gäste der Vokü. „Die Schatzkisten beim Geocaching waren bei jeder neuen Aufgabe schwerer zu finden, seine Angriffe auf Ben und seine Familie werden immer heftiger – egal, was er macht, er steigert sich stets. Das betrifft bestimmt auch die Andeutungen, die er hinterlässt. Er hat uns nicht umsonst hierher dirigiert. Wir müssen auf jeden Fall nachschauen, ob wir etwas finden.“
Marie war sich da nicht sicher. Immerhin glaubte sie, dass er im Museum gar keinen Schatz für Benjamin versteckt hatte, sondern sein Ziel einzig und allein war, den Jungen in eine brenzlige Situation zu bringen.
Außerdem gefiel ihr die Stille in diesem Haus nicht. Auch nicht der Nieselregen, der lautlos an den blinden Fensterscheiben herablief und für ihren Geschmack viel zu wenig Tageslicht ins Innere ließ. Ebenso, dass Gully nicht aufkreuzte, um ihr Revier zu verteidigen. Marie erschauderte bei der Vorstellung, die Obdachlose in einem der Räume tot aufzufinden, mit abgeschnittenen Gliedmaßen und verunstaltetem Gesicht.
Der Wind säuselte durch die Ritzen des Hauses und es klang, als würde das Gebäude atmen und langsam sein Maul öffnen, um, nach allen anderen, die sich hier aufgehalten hatten, auch sie zu verschlingen. Marie bekam eine Gänsehaut an Stellen ihres Körpers, an denen sie nie zuvor eine bekommen hatte.
Mutiger, als sie sich fühlte, schlug sie vor: „Lasst es uns hinter uns bringen und das Haus durchsuchen.“
„Ich halte das für Quatsch!“ Ben trat gegen eine auf dem Boden liegende Konservendose. Sie knallte gegen die Wand, prallte daran ab und rollte scheppernd weiter, bis sie schließlich liegen blieb.
„Wir tun das alles für dich.“ Der Vorwurf war deutlich herauszuhören, aber das scherte Marie nicht. Er hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, hierher mitzukommen, aber Daniel hatte ihn von der Notwendigkeit überzeugt, indem er sagte, sie könnten auf etwas stoßen, dass nur Ben deuten konnte, schließlich hatte nur er Kontakt zum Patron gehabt.
„Ich weiß. Tschuldigung“, gab Benjamin kleinlaut zurück. Er rollte seine Schultern nach vorne, versank damit noch tiefer in seinem Hoodie und starrte zu Boden. Durch seine Haltung erweckte er den Anschein, als wäre er nicht sonderlich erpicht darauf, etwas zu finden, als fürchtete er sich vor diesem Ort.
Marie konnte es ihm nicht verdenken. Seine Dämonen erwachten erneut, die Erinnerung an die letzte Nacht mit Julia und sein schlechtes Gewissen, weil er sich gewiss fragte, ob er sie hätte retten können.
Als sie weiterging, spürte sie eine wachsende Abscheu gegenüber diesem Gebäude. Was genau der Auslöser war, vermochte sie nicht zu deuten, schließlich handelte es sich nur um ein leer stehendes Haus. Vielleicht lag das Grausen an dem
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