Leidenschaft der Nacht - 4
mehr Menschen von der Religion ab und dem neuen Glauben an Theorien und Wissenschaft zu. Olivia zählte nicht zu ihnen. Nicht, dass sie jener Front angehörte, die sich über Mr. Darwins Theorien oder andere wissenschaftliche Erkenntnisse lustig machte. Für sie bargen sowohl Wissenschaft als auch Religion Wahrheit. Sie glaubte durchaus, dass Menschen und Tiere sich weiterentwickelten, doch sie wusste auch, dass es nicht die Royal Academy war, zu der sie in schwierigen Zeiten beten würde, um Trost und Kraft zu schöpfen.
Drinnen war alles von goldenem Kerzenlicht erhellt und warm. In dem Augenblick, in dem Olivia die Tür hinter sich geschlossen hatte, begriff sie abermals, was Zuflucht wirklich bedeutete. Ihr wurde spürbar leichter ums Herz, je weiter sie sich dem Altar näherte. Ihre Schritte hallten in der ansonsten leeren Kirche wider.
»Guten Abend.«
Nein, natürlich war sie nicht leer. Wenigstens blamierte Olivia sich nicht, indem sie vor Schreck aufschrie. Sie blieb, wo sie war, und sah zu dem Priester. Es war nicht derselbe wie gestern Abend. Dieser hier war jünger, wirkte aufmerksamer. Würde er erkennen, was sie war? Es überraschte sie immer wieder aufs Neue, wenn auch nicht mehr so sehr wie früher, dass die Männer Gottes keinen Dämon erkannten, wenn sie einen sahen.
Und bei diesem hier verhielt es sich nicht anders. Er lächelte sie an, als wäre sie eine ganz gewöhnliche Frau, an der rein gar nichts Bemerkenswertes war. Ein Teil in ihrem Innern sank vor Erleichterung zusammen. Sie erwiderte sein Lächeln. »Guten Abend. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich einen Moment setze?«
Er schien erstaunt, dass sie fragte. »Selbstverständlich nicht, meine gute Dame«, antwortete er und zeigte zu einer Kirchenbank ganz vorn. »Bitte sehr.«
Olivia setzte sich auf das polierte Holz und wartete, bis der Priester gegangen war, ehe sie ihren Gedanken freien Lauf ließ. Sie wusste nicht, ob Gebete James helfen würden. Sie konnte nicht einmal ahnen, ob Beten überhaupt half oder der Allmächtige ihre Stimme noch hörte. Aber sie fühlte sich besser, wenn sie in einem Gotteshaus saß und um die Kraft bat, die sie brauchte, um eine Prüfung zu bestehen. Auch wenn sie mit ihrem Herzen haderte, tat ihr die Ruhe einer stillen Kirche wohl, erweckte ihre Lebensgeister und machte alles so viel klarer.
Sie handelte richtig. Reign würde ihr niemals helfen, wüsste er, dass die Entführer ihn im Austausch gegen James verlangten. Niemand, der bei Verstand und kein Heiliger war, würde ein solches Opfer bringen. Und Reign war so weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein, wie es ein Mann nur sein konnte.
Nein, mit den Folgen ihre Verrats an Reign würde sie fertig werden, wenn sie eintraten. Fürs Erste galt ihre Sorge allein James, den sie wieder in Sicherheit bringen musste. Dennoch wünschte sie, es gäbe einen anderen Weg, ihn nach Hause zu holen, einen, bei dem ihr Ehemann entbehrlich war.
In dem Gebetbuch vor ihr steckte ein gefaltetes Blatt Papier, wie ihr auffiel, das sie jäh aus ihren Gedanken riss. Ein Jammer, denn gerade hatten sie angefangen, klarer zu werden!
Nun jedoch siegte Olivias Neugier. Sie zog das Papier heraus und faltete es auseinander, während sie hörte, wie hinter ihr die Kirchentür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Noch ein nächtlicher Sünder, vermutete sie lächelnd.
Ihr Lächeln erstarb allerdings sofort, kaum dass sie die Worte auf dem Papier las.
Dort stand in geschwungener Schrift:
Trödeln Sie nicht, Mrs, Gavin! James ist auf Sie angewiesen.
Erschrocken sprang sie auf.
Der Priester. Er hatte sie gezielt zu dieser Kirchenbank geschickt. Also verfolgten sie sie doch! Sie hatte es gewusst. Und der Priester war einer von ihnen oder stand zumindest unter ihrem Einfluss. Sie hätte am liebsten jemanden umgebracht!
»Olivia.«
Beim Klang der Stimme stockte ihr Atem. Reign. Er würde ihr helfen. Er konnte den falschen Priester festhalten, während sie ihn in Stücke riss.
»Hast du einen Mann gesehen?«, fragte sie leise, als sie sich zu ihm umdrehte.
»Einen jungen Mann mit rötlichem Haar, der wie ein Priester gekleidet ist?«
Er starrte sie an, sichtlich verwundert ob ihres bedrohlichen Ausdrucks. »Nein.«
»Dann ist er vielleicht noch hier.« Sie wandte ihren Kopf zur Seite und lauschte aufmerksam. Weit unter ihr liefen Ratten durch unterirdische Gänge, weit über ihr flatterten Fledermäuse. War da ein tropfender Wasserhahn?
»Riechst du das?«, fragte
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