Leidenschaft der Nacht - 4
sie sich gegeben hatte, um ihn zu überreden, wunderte ihn, dass sie fragte. »Wäre es dir lieber, ich hätte abgelehnt?« Irrte er, oder war sie wütend, dass er ihr Hilfe anbot, obgleich sie eigens hergekommen war, um ihn darum zu bitten?
»Nein, ich will nur wissen, wieso du einer Frau hilfst, die versucht hat, dich zu töten.«
»Du bist meine Frau. Ich werde immer für dich da sein.« Für ihn verriet das mehr, als er wollte, aber Olivia schien nach wie vor verwirrt.
Dann wandte sie den Blick ab. Hatte sie vielleicht ein schlechtes Gewissen? Die Antwort fand er am ehesten heraus, indem er ihre Gefühle ansprach. Wenn er ihren Leib wie ihre Seele verführte, schwächte er ihre Verteidigung ebenso wie ihre Entschlossenheit. Dazu brauchte er nichts weiter zu tun, als ihre Zuneigung zurückzugewinnen. Sie musste glauben, dass er sie immer noch liebte und alles bedauerte, was geschehen war. Reue war nicht weiter wild, davon besaß er zuhauf, aber Liebe? Nein, er war nicht so blöd, es abermals so weit kommen zu lassen. Olivia zu lieben hieß, dass er irrational, idiotisch handelte, womit er ihr geradewegs in die Hände spielen würde.
»Danke«, murmelte sie.
»Hmm, jetzt hast du mir heute Abend schon zwei Mal gedankt. Satan muss sich bereits die Schlittschuhe anschnallen. Ah, war das ein Lächeln?«
Es war genauso schnell wieder fort, wie es gekommen war, aber das Funkeln in ihren Augen blieb. In diesem Moment wurde Reign klar, dass er sie weniger manipulieren als tatsächlich beschützen wollte. »Lass es dir nicht zu Kopfe steigen.«
Er rang sich ein Grinsen ab. »Ich muss sagen, unseren dreißigsten Hochzeitstag habe ich mir ein bisschen anders vorgestellt.«
»Wir sind länger getrennt, als wir je zusammen waren«, bemerkte sie, als wäre es ihr eben erst aufgefallen.
Schlagartig wurde er ernst. »Traurig, nicht wahr?«
Sie nickte. »ja.« Entgeistert beobachtete er, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.
Aber natürlich galten sie weder ihm noch ihnen beiden. »Er ist nicht einmal zwanzig Jahre alt, Reign! James ist noch ein Kind, und diese Leute haben ihn … « Ihre Hilflosigkeit schmerzte ihn stärker, als es die Klinge tat, die sie ihm vor Jahren in die Brust gerammt hatte.
Reign ging zu ihr und zögerte nur einen winzigen Augenblick, ehe er sie in seine Arme nahm. Mochte sie ihn für einen Narren halten. Mochte sie ihn hassen und für ihre Zwecke benutzen, aber ihre Tränen waren echt.
Erst ein einziges Mal hatte er sie weinen gesehen: als er… sie betrog. Damals hatten ihre Tränen für ihn das Ende der Welt bedeutet. Olivia war keine Frau, die leicht weinte, erst recht nicht um sich selbst. Ihre Tränen waren Momenten vorbehalten, in denen sie sich unsagbar hilflos und allein fühlte.
Das könnte er zu seinem Vorteil nutzen. Der Gedanke entsprang dem kalten, misstrauischen Teil seines Verstandes, *der entschlossen war, die Oberhand zu behalten. Wenn er jetzt drängte, konnte er ihr dann die Wahrheit entlocken? Könnte er sie ins Bett bringen, sie auf die Matratze zwingen und ihren Körper wieder mit seinem verschlungen fühlen? jahrelang hatte sie seine Träume heimgesucht und er sich ausgemalt, dass sie zurückkommen würde. Manchmal kam sie angekrochen, bettelte um Vergebung. Dann wieder fand er sie und verführte sie, zu ihm nach Hause zu kommen. Und ab und zu stellte er sich vor, wie es gewesen wäre, hätte sie ihn nie verlassen. Was in all den Phantasien stets gleich blieb, war, dass sie ihn ebenso sehr wollte wie er sie.
Wenige Minuten ließ sie sich von ihm halten, während sie ihre Tränen abwischte. Sie schafften es nicht einmal, ihre Wangen hinunterzukullern, ehe Olivia sie eisern fortblinzelte. Anschließend schob sie Reign von sich - nicht gewaltsam, aber eindeutig signalisierend, dass sie seinen Trost nicht wollte.
Oder sie wollte ihn zu sehr. Aber das war egal. Heute Nacht würde er sie nicht ins Bett locken können, und bald ging die Sonne auf.
»Sie wussten, dass ich in die Kirche gehe. Sie beobachten mich«, erklärte Olivia, die weiter auf Abstand ging, »ohne dass ich es bemerke. Wie ist das möglich?«
Reign schwieg. Sie brauchte seine Antwort nicht. Es war möglich, weil Olivia sich, wie die meisten außergewöhnlichen Kreaturen, gegenüber allen anderen für überlegen hielt. Nicht, dass sie keine Achtung vor dem menschlichen Leben besaß, aber sie glaubte, sie stünde über der menschlichen Intelligenz. Und nun lernte sie, wie irrig diese Annahme
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