Leidenschaft der Nacht - 4
zu entblößen, wehte ihr ein beißender Schweißgeruch entgegen, der ihrem Hunger einen raschen Tod bescherte. Das war, als ginge man in eine Konditorei und würde Fisch riechen. Olivia würgte und sah sich nach der Quelle des Gestanks um, die sie aber nicht entdecken konnte. Niemand hier sah schmutzig aus, es roch bloß so.
Oder gehörte der eklige Geruch zu dem Geist, der ihr zu folgen schien? Sie sah ihn nicht, obwohl sie ihn zu fühlen und zu riechen glaubte. Aber vielleicht wollte sie bloß ein Rätsel lösen, das gar nicht existierte. Ebenso gut konnte es in der Oberklasse Leute geben, die dem archaischen Glauben anhingen, dass regelmäßiges Baden gefährlich oder zumindest unnötig wäre.
Die Fahrstuhltür öffnete Sich, und Olivia lief hinein. Sie hatte es eilig, den unbehaglichen Empfindungen zu entkommen, die sie nervös machten. Ein älteres Paar stieg zu ihr in den Lift. Es lächelte ihr freundlich zu, bevor es sich auf Deutsch unterhielt. Der Fahrstuhlführer schob die Tür zu und betrachtete Olivia aus dem Augenwinkel, als er den Hebel drückte. Er war ein gutaussehender junger Mann mit dunklem Haar und hellen Augen. Ein bisschen erinnerte er sie an Reign, und sein sauberer Duft, gepaart mit seinem unverhohlenen Interesse, regte ihren Appetit an.
Er hatte Glück, dass sie nicht allein waren, sonst hätte sie ihrem Hunger womöglich nachgegeben und ihn gleich hier genommen. Und der junge hätte sie gelassen. Das taten sie immer.
Als sie auf ihrem Stockwerk ausstieg, zitterte sie. Nach dem ruhigen Leben am Meer war London einfach zu viel für sie. Die Stadt war schuld, dass sie unruhig und bedrohlich angespannt war. ja, die Stadt!
Schnell ging sie den eleganten hell erleuchteten Korridor hinunter. Der dicke Teppich dämmte das Stakkato ihrer Schritte, während sie vor einem unsichtbaren Feind davonlief, real oder eingebildet.
In dem Moment, in dem sie ihre Suite betrat, wich ein Großteil der Spannung von ihr. Sie wurde vom Duft frischer Laken und Limonen empfangen. Die Geräusche der Außenwelt drangen nicht hierher durch. Niemand beobachtete sie. Keine Jungen führten sie in Versuchung. Keine Vampire mit grauen Augen zerrten an ihren Nerven.
Sie lehnte sich von innen an die Tür, presste ihre Schultern gegen das Holz und holte mehrmals Luft, um sich zu beruhigen. Sollte sie nicht widerstandsfähiger sein?
Sie musste sich zusammennehmen. Auf keinen Fall würde sie sich in ihrem Hotelzimmer verstecken - nein!
Sie blieb lange genug in ihrer Suite, um sich wieder zu beruhigen und sich etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen. Danach ging sie zu den Glasflügeltüren, hob den Riegel hoch und ließ die Nacht herein.
Ihre Suite lag auf der Rückseite des Hotels im sechsten Stock. Der Balkon - sofern man von einem Balkon sprechen konnte - war mit einem zierlichen Gusseisengeländer versehen und gerade so groß, dass man einen Fuß hinaussetzen konnte. Mehr brauchte sie nicht. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, der sie sehen konnte, schloss sie die Türen hinter sich und stieß sich ab.
jetzt sollte einmal jemand versuchen, ihr zu folgen!
Sie rauschte so schnell durch die Luft, dass der Wind an ihren Haarnadeln zerrte und ihre Augen zu Tränen begannen, aber sie flog weiter. Es gab nur einen Ort, an dem sie heute Nacht Frieden finden konnte, und dort wollte sie hin.
Die Kirchturmspitze von St.-Martin-in-the-Fields ragte in der Ferne auf. Die Arme an ihren Seiten, schoss Olivia darauf zu wie ein Kieselstein, der mit einer Schleuder abgefeuert worden war. Ihre Röcke flatterten ihr schnalzend um die Knöchel.
Gleich hinter der Kirche kam sie auf dem Boden auf und huschte aus den tiefen Schatten, wobei sie sich das windzerzauste Haar richtete.
Als sie die Treppe hinaufstieg, fühlte sie sich winzig angesichts des riesigen Baus.
Griechische Säulen erhoben sich vor dem Kircheingang und hielten ein Vordach, unter dem der weiche helle Stein in völliger Dunkelheit lag. Bei jedem anderen Gebäude an jedem anderen Ort wäre dieser Anblick einschüchternd, wenn nicht gar beängstigend gewesen, doch hier herrschte nur Frieden.
Die Tür ließ sich leicht öffnen, genau wie am Abend zuvor, als Olivia herkam, um ihre Gedanken zu sammeln. Heutzutage verriegelten so viele Kirchen ihre Türen, dass es erstaunte, selbst um diese Stunde noch hier hineinzukönnen. Gestern allerdings hatte es sie nicht gewundert, denn es war Sonntag gewesen.
Neuerdings wandten sich anscheinend immer
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