Leidenschaft des Augenblicks
tatsächlich keiner tiefen Gefühle fähig war. Doch erkennen zu müssen, daß das Feuer da war, genau wie sie befürchtet hatte, daß er es aber voll und ganz unter Kontrolle hatte - das brachte sie vollends aus dem Gleichgewicht. Jessie begann zu zittern. Erschrocken drückte sie mit beiden Händen gegen Hatchs Schultern. Er ließ sie augenblicklich los, blickte sie dabei aber mit einem amüsierten, nur allzu wissenden Lächeln an. Sein Atem ging genauso ruhig und gleichmäßig wie immer.
Jessie wich rasch vor ihm zurück, und sie bemerkte entsetzt, daß ihr Mund bebte. Bei dem Versuch, ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, biß sie sich auf die Unterlippe, ging zum Schrank und holte eine neue Tasse.
»Nun, Jessie?«
»Ich glaube, du gehst jetzt besser.« Mit zitternden Fingern goß sie den Tee in ihre Tasse.
Er wartete noch einen Augenblick, drehte sich dann wortlos um und verließ die Küche - und ihre Wohnung.
Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, lehnte Jessie sich erschöpft an die Küchentheke, schloß die Augen und trank in hastigen kleinen Schlucken den heißen Tee.
Als Jessie am folgenden Morgen zur Arbeit kam, wartete eine in jeder Hinsicht farblose, überaus besorgt dreinblickende Frau mittleren Alters vor der Tür zu Valentine Consultations. Die Möglichkeit, eine wahrhaftige Klientin vor sich zu haben, machte Jessie derart nervös, daß sie fast den Schlüssel fallen gelassen hätte.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Warten Sie schon lange? Ich fürchte, Mrs. Valentine kann heute nicht kommen, aber vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin Martha Attwood«, sagte die Frau und blickte unruhig um sich. »Ich habe einen Termin.«
»Tatsächlich?« Jessie sperrte auf und ließ der Frau den Vortritt in das Büro. »Ich bin Mrs. Valentines Assistentin, kann mich aber nicht erinnern, einen Termin für Sie eingetragen zu haben.«
»Ich habe sie vorgestern abend zu Hause angerufen.« Die Frau betrat zögernd den Raum und sah aus, als hätte sie eine Kristallkugel auf dem Tisch und dunkle Samtvorhänge vor den Fenstern erwartet. »Ich sagte ihr, daß ich mir noch nicht sicher sei, ob ich ihre Dienste tatsächlich in Anspruch nehmen wolle. Da hat sie mich gebeten, heute früh vorbeizukommen. Um alles unverbindlich durchzusprechen.«
»Selbstverständlich. Nehmen Sie doch bitte Platz, Mrs. Attwood. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«
»Nein, vielen Dank.« Martha Attwood setzte sich auf die vorderste Stuhlkante und hielt ihre Handtasche zwischen die Knie gepreßt. Sie musterte erneut mit unsicherem Blick das Büro. »Ich glaube wirklich nicht an sowas. Nichts als Hokuspokus, wenn Sie mich fragen. Aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Ich bin wirklich verzweifelt, und die Polizei sagt, sie könnte nichts unternehmen. Es ist kein richtiges Verbrechen geschehen, und meine Tochter...« Sie sah aus, als würde sie gleich beginnen zu weinen. »Bitte entschuldigen Sie.«
Jessie sprang von ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch auf und kam nach vom, um ihr eine Packung Papiertaschentücher hinzuhalten. »Ist schon in Ordnung, Mrs. Attwood. Lassen Sie sich nur Zeit.«
Martha Attwood schniefte mehrmals, schneuzte sich und stopfte dann das Taschentuch in ihre Handtasche. »Bitte verzeihen Sie mir. Es tut mir wirklich leid. Das sind die Nerven. Die letzte Zeit war einfach zu schrecklich.«
»Ich verstehe.«
»Sie war so gut im College. Ich war so stolz auf sie. Sie hat Informatik studiert.«
»Wer hat Informatik studiert?«
»Meine Tochter. Susan. Sie war so reif für ihr Alter. Schon als Kind. So ruhig. Hat immer viel gelernt. Und so sensibel war sie. Nie gab es irgendwelche Schwierigkeiten. Und jetzt das. Ich hätte nie geglaubt, daß sie so etwas tun würde. Es ist, als wäre sie davongelaufen und hätte mich verlassen. Genauso wie Harry.«
»Wo ist Susan denn hingegangen, Mrs. Attwood?« Jessie setzte sich neben die Frau.
»Sie ist auf und davon zu einer Sekte. Hier im Nordwesten irgendwo. Glaube ich wenigstens. Der letzte Brief, den sie mir geschrieben hat, ist hier in Seattle abgestempelt. Lieber Gott, ich kann es immer noch nicht glauben. Wie konnte Susan nur in so etwas hineingeraten?« Mrs. Attwood griff nach einem neuen Papiertaschentuch.
»Darf ich Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, Mrs. Attwood? Wissen Sie, wo Ihre Tochter sich aufhält?«
»Nicht genau. Ich weiß nur, daß sie ihr Studium am Butterfield College aufgegeben hat und
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