Leise Kommt Der Tod
unterrichtete, fragte mich, ob ich als Aktmodell für seinen Malkurs posieren wolle, für hundert Dollar. Natürlich habe ich ja gesagt. Ich gebe zu, dass ich nicht das attraktivste Modell war, aber ich machte meine Arbeit gut.«
»Demnach hat Karen den Malkurs belegt«, stellte Sweeney fest.
»Ich nehme es an. Ich glaube mich sogar noch zu erinnern, dass sie dort war. Es ist mittlerweile so lange her.«
Lacey stand neben ihm und betrachtete immer noch die Zeichnungen aus der Vergangenheit ihres Ehemannes.
»Fred«, sagte Sweeney, »nun muss ich dich aber fragen, wovon du dachtest, dass ich spreche?«
Er setzte sich und nahm Laceys Hand in seine, streichelte sie und legte sie dann an seine Wange. »Oh, meine große Liebe«, sagte er und sah zu ihr auf. »Ich habe es schon angedeutet. Es ist so schrecklich.«
»Was denn?« Sweeney bemerkte den Blick, den sich die beiden zuwarfen, und war nicht sicher, was er zu bedeuten hatte.
Lacey legte die Hände auf seine Schultern und sagte nach kurzem Zögern mit fester Stimme: »Was? Erzähl es mir. Wie ich schon sagte. Erzähl mir alles.« Sweeney wusste nicht, wovon sie sprach, aber sie bemerkte, wie Fred nach ihrem Handgelenk griff und es mit den Fingern umschloss.
»Es war in meinem Abschlussjahr«, begann er. »Ich schrieb
an meiner Doktorarbeit über Potter. Er und ich waren Freunde geworden, mehr oder weniger; er ermöglichte mir vieles, hatte Zeit für mich. Er wusste von meiner Arbeit, aber eines Tages, als ich ihn besuchte, erklärte ich ihm, dass ich seine Biographie schreiben wolle. Wir hatten viel Zeit zusammen verbracht, und ich denke, er vertraute mir bereits. Zu jenem Zeitpunkt ging es ihm schon sehr schlecht. Außerdem schwirrten seine Kinder ständig um ihn herum. Sie warteten darauf, dass er starb, damit sie endlich über sein Vermögen verfügen könnten. Er war ein schrecklicher Vater gewesen, deswegen waren sie alle der Meinung, dass er ihnen wenigstens das schuldete.
Egal, jedenfalls erklärte ich ihm, dass ich seine Biographie schreiben wolle. Er deutete zu einem Schrank in der Ecke des Zimmers und sagte, ich könne seine Tagebücher haben. Ich hatte nicht mal gewusst, dass er welche besaß, und als ich in den Schrank sah, fand ich an die fünfzig Bände. Er hatte schon als Kind angefangen, Tagebuch zu schreiben. Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass ich fast in Ohnmacht fiel. Da war es, mein Buch, direkt vor meinen Augen. Es war … Nun, Sweeney, du kannst bestimmt nachfühlen, wie das für mich war. Nur sehr wenige Biographen haben Zugang zu etwas Derartigem. Und er sagte, ich könne sie haben. Das schwöre ich. Er versprach mir, dass sie nach seinem Tode mir gehören sollten. Und ein paar Wochen später starb er. Ich bekam einen Anruf von einer seiner Pflegerinnen, die wusste, wie nahe wir uns mittlerweile standen. Ich war noch vor seinen Kindern dort, und sie erzählte mir, dass der älteste Sohn, Garrison, nicht einmal Trauer gezeigt hatte, angesichts des Todes seines Vaters. Er hatte ihr und der Haushälterin lediglich die Anweisung erteilt, seine Geschwister daran zu hindern, etwas aus dem Haus mitzunehmen.
Ein paar Tage später versuchte ich einer von Potters Töchtern zu erklären, dass ich seine Biographie schreiben wollte und er mir dafür seine Tagebücher versprochen hatte. Sie
wusste nichts von den Aufzeichnungen und reagierte sehr verärgert. Sie sagte, ich hätte kein Recht, in ihren Familienangelegenheiten herumzuschnüffeln. Mir wurde klar, dass sie auf keinen Fall zu dem Wort ihres Vaters stehen würden, also verabschiedete ich mich. Ich ging geradewegs zu seinem Atelier und nahm die Tagebücher einfach an mich. Ich habe sie alle mitgenommen. Ich wünschte, ihr könntet mich verstehen. Mir war bewusst, was ich tat, ich schnappte mir die Bücher.
Später rief mich eines seiner Kinder an und fragte, ob ich irgendetwas mitgenommen habe. Ich erklärte, dass er mir ein paar Notizbücher gegeben habe, sonst nichts. Ich habe lange geglaubt, damit durchgekommen zu sein. Aber vor ein paar Wochen bekam ich einen Brief von Garrison. Er hatte von meinem Buch erfahren und dass es Informationen enthielt, die aus den Tagebüchern stammten. Er hatte geglaubt, die Bücher seien verloren gegangen, aber nun war ihm klar geworden, dass ich sie haben musste. Er drohte damit, meinen Verleger anzurufen.«
Er legte den Kopf in die Hände. »Garrison wird alles auffliegen lassen. Das Dumme daran ist, dass es mein Buch in ein schlechtes Licht
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