Leise Kommt Der Tod
Diese für ihn so typische Handbewegung tauchte stets wie ein Schnappschuss in ihrer Erinnerung
auf, wenn sie an ihn dachte. »Hat es damit zu tun, dass du sie gefunden hast? Oder hast du sie gekannt?«
»Nicht so richtig«, entgegnete Sweeney. »Und ich habe sie auch nicht gefunden. Jeanne hat sie entdeckt.«
»Aber du warst dabei.«
»Ja. Doch darum geht es gar nicht. Ich hänge nur gerade irgendwie in der Luft. Die Ausstellungseröffnung ist vorbei, und ich sollte eigentlich mit der Recherche für das Buch anfangen, aber die Sache hat mich aus dem Konzept gebracht.«
»Und du hast dich immer noch nicht für oder gegen London entschieden.«
»Genau, ich weiß noch nicht, ob ich nach London gehen werde.« Sie lehnte sich an die Beifahrertür seines Honda. »Was würdest du mir raten?«
»Ich denke, du solltest nicht jemanden um eine objektive Meinung bitten, der dich so sehr mag wie ich. Schließlich wird durch diese Beziehung ein Ozean zwischen uns sein.«
»Nein, im Ernst. Ich möchte deine Meinung hören.«
»Meiner Meinung nach ist Ian ein großartiger Typ und unsterblich in dich verliebt. Aber das spielt keine Rolle. Was hältst du davon?« Er ging zur Fahrerseite hinüber und öffnete die Tür, während er ihr über das Autodach einen Luftkuss zuhauchte. »Tut mir leid. Danke für das Abendessen. Und pass gut auf dich auf. Ich mache mir sonst Sorgen, wenn du noch länger in der Luft hängst.«
Sie winkte ihm nach, als er davonfuhr. Obwohl sie nicht sicher war, was genau er damit meinte, spürte sie, dass er Recht hatte. Normalerweise geriet sie immer dann in Schwierigkeiten, wenn sie ohne Beschäftigung war.
Nach dem Brunch am Sonntagvormittag fuhr Ian für ein paar Stunden ins Büro, deshalb entschied Sweeney, einen Spaziergang zu machen. Sie brauchte Zeit, um in Ruhe nachzudenken, und wenn sie unterwegs war, gelang ihr das stets am besten. Es
war immer noch heiß, deshalb zog sie ein Tanktop und Shorts an und schlüpfte in ihre Flipflops. Ohne Ziel lief sie in der Gegend rund um den Davis Square herum.
Dabei ermahnte sie sich selbst, ihre rastlose Stimmung nicht auf Olga zu schieben. Schließlich war sie ja nicht mit ihr befreundet gewesen. Zwar war ihr Olga seit etlichen Jahren bekannt, aber richtig gekannt hatte sie sie nicht. Sweeney hatte sie stets angelächelt und war freundlich gewesen, aber Olga schien nicht einmal an einer flüchtigen Bekanntschaft interessiert zu sein. Sie war sehr kontaktscheu, was wohl auf ihre schrecklichen Erlebnisse in der Sowjetunion zurückzuführen war, wo Juden verfolgt worden waren. Sweeney konnte sich nicht mehr daran erinnern, wer ihr von dem Phänomen der Refusenik erzählt hatte: Olga war unter jenen Juden gewesen, die emigrieren wollten, denen das beantragte Visum aber verweigert worden war. Aufgrund dessen standen sie in der Folgezeit unter Beobachtung. Darum war es nicht verwunderlich, dass Olga oft zurückhaltend reagierte.
Was für eine schreckliche Ungerechtigkeit war es doch, dass jemand, der in seinem Leben nichts besessen hatte, letzten Endes bei einem Kunstdiebstahl getötet wurde.
Der Gedanke an den Diebstahl zwang Sweeney zum Innehalten. War es wirklich nur Zufall, dass sie auf Karen Philips und den Kunstraub im Museum gestoßen war und dass sich die Geschichte wiederholte? Aber wie Quinn gesagt hatte, Zufälle waren eben manchmal nur Zufälle.
Sie dachte an Ian, während sie weiterging. Toby hatte Recht. Es spielte keine Rolle, was er von Ian hielt. Am Ende kam es nur darauf an, was sie selbst dachte. Sie wusste, dass sie viel für Ian empfand und sich zu ihm hingezogen fühlte, obwohl das in den letzten Wochen nachgelassen hatte, wie ihr mit einem Mal bewusst wurde. Sie fragte sich, woran es wohl lag. Er war stets aufmerksam und liebevoll gewesen, und er hatte ihr das Gefühl gegeben … wertvoll zu sein. Sie konnte sich nicht erklären, wie
sie plötzlich auf dieses Wort gekommen war, aber es passte. Und er wollte, dass sie ihn nach London begleitete. Wie sollte sie sich entscheiden?
Was würde Quinn sagen, wenn sie ihm diese Frage stellen würde? Mit einem Mal legte sie Wert auf seine Antwort. Aber natürlich konnte sie ihn nicht einfach so anrufen und fragen, oder doch? Sie schüttelte den Kopf in dem Versuch, wieder auf vernünftige Gedanken zu kommen. Quinn um Rat für ihr Liebesleben zu fragen, wie kam sie nur auf diese Idee? Er würde sie für verrückt erklären.
Sie ertappte sich bei der Überlegung, wo er wohl gerade steckte.
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