Leises Gift
Hausbewohner aufwachen könnten, doch nichts regte sich, und die Lichter blieben dunkel.
Sie lud eine Patrone in die Kammer ihrer Glock und wartete.
Die Scheinwerferlichter kamen die Straße herauf und passierten die Auffahrt, ohne langsamer zu werden. Alex lehnte sich gegen die Wand aus Schalbrettern und spürte das Hämmern ihres Herzens durch das Holz hindurch. Verlor sie den Verstand? Ihre linke Hand wanderte zum Mobiltelefon in ihrer Tasche. Wen konnte sie anrufen? Chris Shepard? Er konnte Ben nicht allein im Haus zurücklassen. Selbst wenn, er war nicht für eine Situation wie diese trainiert. Will Kilmer war zu weit weg, um zu helfen. Herrgott, selbst wenn sie den Notruf wählte, konnte sie keine Hilfe erwarten. Sie wusste ja nicht einmal genau, wo sie war. Sie wusste nur die ungefähre Gegend. Im Verlauf der letzten zehn Minuten hatte sie so gut wie sämtliche Vorschriften des FBI für derartige Situationen außer Acht gelassen.
»Ich gehöre wirklich gefeuert …«, flüsterte sie leise.
Allmählich verlangsamte sich ihr wilder Herzschlag, und als weiterhin keine Scheinwerfer auftauchten, normalisierte er sich halbwegs. Um sich abzulenken, zählte sie die Schläge pro Minute: fünfundsiebzig. Während sie wartend dastand, kam ihr in den Sinn, dass der Fahrer des Lieferwagens sich vielleicht nur hatte überzeugen wollen, dass sie aus dem Weg war, bevor er seinen Angriff auf Chris startete.
»Scheiße!«, fluchte sie und kramte ihr Mobiltelefon hervor. Sie wählte die Nummer von Chris Shepard. Diesmal meldete er sich Gott sei Dank sofort.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Überhaupt nichts ist in Ordnung!«, antwortete sie. »Hören Sie genau zu, Chris. Der weiße Lieferwagen ist mir gefolgt, nachdem ich von Ihnen weggefahren bin. Ich parke in einem Wohnviertel abseits der Liberty Road. Der Wagen ist vor ungefähr fünf Minuten hier vorbeigefahren und dann verschwunden. Er kann noch nicht bei Ihnen sein, aber es wäre möglich, dass er zu Ihnen unterwegs ist. Sind Sie noch immer im Studio?«
»Ja.«
»Haben Sie Ihre Waffe bei sich?«
»In der Hand. Soll ich die Polizei anrufen?«
»Es kann nicht schaden. Sie könnten sagen, Sie hätten einen Landstreicher gesehen.«
»Das habe ich schon einmal gemacht. Es hat eine Viertelstunde gedauert, bis jemand vorbeigekommen ist. Wir sind hier auf dem Land, nicht in der Stadt.«
»Dann rufen Sie jetzt gleich an.«
»Okay.«
»Ich melde mich in ein paar Minuten wieder.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich suche den Lieferwagen. Wenn sich jemand Ihrem Studio nähert, schießen Sie zuerst und stellen Sie hinterher Fragen.«
»Alex …«
»Ich lege jetzt auf. Rufen Sie die Polizei an.«
Sie griff in die Tasche, um ihre Schlüssel hervorzuholen, als ihr inneres Radar Alarmstufe Rot meldete. Es gab keine Vorwarnung, kein Geräusch, nichts Greifbares, das sie hätte erstarren lassen, und doch war genau das geschehen. Irgendetwas hatte sich verändert, während sie telefoniert hatte. Ihr Bewusstsein hatte es nicht registriert, doch in ihrem Kleinhirn war ein Sensor ausgelöst worden. Adrenalin schoss in ihre Adern, als hätte sie unendlich viel davon zur Verfügung. Sie musste alle Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht in wilder Panik die Flucht zu ergreifen. Eine normale Person wäre nicht imstande gewesen, diesem Impuls zu widerstehen, doch Alex’ Training half ihr. Sie wusste, dass Weglaufen gleichbedeutend war mit Sterben.
Ihre Herzfrequenz hatte sich schlagartig verdoppelt. Dreißig Meter vor ihr war der Asphalt schwach erleuchtet von einer weit entfernten Straßenlaterne. Die Häuser in der unmittelbaren Umgebung hatten nur einzelne Lampen auf den Veranden, und es gab kein nennenswertes Mondlicht. Die Welt war schwarz und grau. Alex duckte sich und huschte mit schussbereiter Waffe zu einer Ecke des Carports. Es kostete sie einige Anstrengung, nicht die Klingel neben der Fliegentür zu betätigen.
Sie lauschte angestrengt auf das leiseste Geräusch, doch es war nichts zu hören außer dem stetigen Surren der Klimaanlagen in der feuchten Dunkelheit. Dann war es da. Ein leises Klackern, wie von einem Steinchen, das über Zement rutscht. Sie riss die Pistole hoch und zielte in die Richtung, aus der das Schlittern gekommen war, wo sich der Carport zur Auffahrt hin öffnete. Sie starrte in die Schwärze auf der Suche nach Licht wie ein Bergarbeiter, hinter dem der Stollen eingebrochen ist. Sie starrte so angestrengt in die Dunkelheit, dass sie beinahe in
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