Leises Gift
Zentralheizung, fließend warmem Wasser und Satellitenfernsehen im Gemeinschaftsraum. In den Augen ernsthafter Jäger waren die Kosten durchaus gerechtfertigt. In dieser Gegend gab es mehr Hochwild pro Hektar als in irgendeinem anderen Teil der Vereinigten Staaten. Und das Wild war groß: Der größte je geschossene Bock war hier erlegt worden. Hochwild liebte das tiefe Unterholz der sekundären Wälder; die ursprünglichen Wälder in diesem Teil des Staates waren vor nahezu zweihundert Jahren abgeholzt worden. Es war fast wie der Himmel für das Wild, und Jäger aus dem ganzen Staat zahlten Spitzenpreise für Jagdlizenzen. Im Südwesten, in der Gegend um Natchez, waren die Preise sogar noch höher.
Während Rusk den Cayenne zum Haupthaus lenkte und vor dem Gebäude parkte, suchte er die Lichtung nach Eldon Tarver ab, doch es war niemand zu sehen. Er stieg aus und überprüfte die Tür des Haupthauses, doch sie war abgesperrt. Das war logisch – Tarver war kein Mitglied des Clubs und besaß demzufolge keinen Schlüssel. Doch Tarver kannte die Kombination des Tors vorn an der Straße, dank Andrew Rusk. Das war der Treffpunkt, den sie vor langer Zeit für den Notfall vereinbart hatten. Sie hatten sich für Chickamauga entschieden, weil sie hier ihr erstes gemeinsames Unternehmen geplant hatten. Ihre Bekanntschaft war zum damaligen Zeitpunkt bereits zwei Jahre älter gewesen, doch es hatte in der ganzen Zeit nahezu kein persönliches Meeting gegeben. Sämtliche späteren Treffen hatten weniger als zwei Minuten gedauert und an einem so öffentlichen Platz stattgefunden, dass niemand auch nur im Traum auf den Gedanken gekommen wäre, es könnte ein richtiges Meeting sein.
Obwohl die Lichtung einsam und verlassen dalag, war Rusk sicher, dass Tarver längst eingetroffen war. Er hatte seinen Wagen versteckt für den Fall, dass andere Mitglieder des Jagdclubs da waren – höchst unwahrscheinlich außerhalb der Saison, doch man konnte nie wissen. Die Frage war: Wo würde Tarver auf Andrew Rusk warten?
Rusk schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Waldes. Zuerst vernahm er den Wind, den raschelnden Tanz von Millionen Blättern in der Frühlingsluft. Dann die Vögel: Sperlinge, Eichelhäher, Mauerschwalben. Eine einsame Wachtel. Das unregelmäßige Klopfen eines Spechts. Über alledem das leise Summen von Lastwagen auf dem fernen Highway 28. Doch nichts in der Symphonie der Stimmen lieferte auch nur den geringsten Hinweis auf die Anwesenheit eines weiteren Menschen.
Dann roch er das Feuer.
Irgendwo zu seiner Linken brannte Holz. Er setzte sich in Bewegung und marschierte mit langen, sicheren Schritten zwischen den Bäumen hindurch. Je weiter er gegen den Wind vorankam, desto intensiver wurde der Geruch nach Rauch. Und Fleisch. Jemand bereitete dort draußen Nahrung zu! Womit plötzlich zweifelhaft war, dass dieser Jemand Eldon Tarver sein könnte – doch Andrew musste sicher sein.
Wenige Sekunden später gelangte er auf eine kleine Lichtung. Genau in deren Mitte saß Tarver. Der riesige Pathologe hielt eine gusseiserne Kasserolle über ein kleines Feuer, und das Geräusch von brutzelndem Fleisch erfüllte die Luft. An einem Draht neben Tarver hing ein totes Kitz, frisch gehäutet, jedoch nur teilweise zerlegt.
»Nehmen Sie Platz«, sagte Tarver in seinem tiefen Bariton. »Ich bereite eben die Lenden zu. Sie schmecken sündhaft gut, Andrew.«
Indem der Pathologe das Kitz erlegt hatte, hatte er gegen eine der heiligsten Regeln des Camps verstoßen. Und indem er das Kitz außerhalb der Jagdsaison erlegt hatte, hatte er darüber hinaus gegen Bundes-und Staatsgesetze verstoßen. Doch Rusk hatte nicht vor, eine diesbezügliche Bemerkung zu machen. Er hatte größere Probleme, um die er sich kümmern musste. Abgesehen davon – ganz gleich, welche Gesetze und Regeln Tarver übertreten hatte –, es war mit vollem Wissen und in voller Absicht geschehen.
Tarver spießte ein Stück Lende auf ein Taschenmesser und hielt es Rusk hin. Dieser nahm das Messer und aß das Fleisch als Zeichen ihrer Verbindung.
»Es ist fantastisch«, sagte er. »Absolut fantastisch!«
»So frisch es nur geht – außer ganz roh.«
»Haben Sie etwa schon mal rohe Lende gegessen?«, fragte Rusk.
Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Pathologen. »Oh ja, selbstverständlich. Als ich ein Knabe war … aber das ist eine andere Geschichte.«
Die ich zu gerne irgendwann hören würde, dachte Rusk. Wenn ich mehr Zeit habe.
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