Leises Gift
und setzte sich, um seine Schuhe wieder anzuziehen. »Als wir das letzte Mal hier waren, haben Sie mir erzählt, dass Sie die Wälder hassen«, bemerkte er.
Der Pathologe kicherte leise. »Manchmal hasse ich sie, ja.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie wissen so wenig über mich, Andrew. Selbst wenn ich es Ihnen erzählen würde … meine Geschichte ist völlig außerhalb Ihres Erfahrungshorizonts, glauben Sie mir.«
Rusk versuchte, die Antwort als Arroganz abzutun, doch das war nicht Tarvers Absicht gewesen. Was er hatte sagen wollen, war eher: Du gehörst nicht zu meinem Stamm. Vielleicht gehörst du nicht einmal zu meiner Spezies. Und das stimmte. Ganz gleich, was Tarver von den Wäldern hielt – er war ganz sicher kein Fremder darin. Bei seinem letzten Besuch hier im Chickamauga Camp – vor inzwischen fünf Jahren – war er Gast eines orthopädischen Chirurgen aus Jackson gewesen. Zwei Tage lang hatte er nichts geschossen, zur wachsenden Belustigung der übrigen Mitglieder, die in jenem Jahr Rekord-Abschüsse verzeichneten, wenngleich hauptsächlich Weibchen und eher von der kleineren Sorte. Doch während der ganzen Zeit wurde über nichts anderes geredet als den Ghost, einen gerissenen alten Zwölfender, der den besten Jägern des Camps seit beinahe zehn Jahren immer wieder ein Schnippchen schlug. Nachdem er zwei aufeinanderfolgende Jahre unsichtbar geblieben war, hatte es in der vorangegangenen Woche eine Sichtung gegeben, und alles war in heller Aufregung. Männer und Knaben ohne Unterschied waren auf der Jagd nach ihm. Jeden Abend lauschte Tarver schweigend den Geschichten, welche die anderen am Lagerfeuer über Ghost erzählten, einige wahr, andere apokryph, und jeden Morgen verschwand er bereits vor Sonnenaufgang in die umliegenden Wälder.
Am dritten Tag – einem Sonntag, wie Rusk sich erinnerte – war Eldon Tarver mit der Einhundert-Kilo-Karkasse des erlegten Ghost über den Schultern in das Lager zurückmarschiert.
Er verärgerte eine ganze Reihe von Clubmitgliedern, weil er ihren sagenhaften Zwölfender getötet hatte, doch was konnten sie schon sagen? Tarver hatte das Tier nicht von einem Hochstand aus geschossen, nicht auf die Art und Weise, wie die meisten Jäger heutzutage »jagten«, bequem und trocken auf der Lauer liegend, bis ein Stück Wild direkt vor ihre Flinte lief – eine Taktik, die es jedem Achtjährigen ermöglichte, bereits beim ersten Jagdausflug das erste Stück Wild zu schießen.
Dr. Eldon Tarver war losgezogen und hatte den Zwölfender auf die althergebrachte Weise erlegt. Wie ein Indianer. Er hatte dem mächtigen Zwölfender drei Tage lang kreuz und quer durch den Wald nachgestellt, eine elende Schinderei bei dem dichten Unterholz und dem vom Herbstregen aufgeweichten Boden. Tarver hatte zu keinem Zeitpunkt weitere Einzelheiten preisgegeben (er schien dem alten Aberglauben anzuhängen, dass man die Macht einer Sache verringert, indem man über sie sprach), doch nach einer Weile hatten die Mitglieder der Jagdgesellschaft sich aus dem wenigen Bekannten eine Legende erschaffen. Die, die auf den Hochsitzen gelauert hatten, berichteten von eigenartigen Geräuschen nach Einbruch der Morgendämmerung am Tag des Abschusses – Paarungsröhren, das Grunzen kämpfender Böcke Geräusche, die nur ein Meisterjäger nachzuahmen imstande war. Dann hatte es einen Knall gegeben, einen einzigen, perfekten Blattschuss, der den Zwölfender auf der Stelle getötet hatte. Es war ein so schmerzloser, rascher Tod, wie der große Bock ihn sich nur wünschen konnte – keine meilenweite Hetzjagd durch das Gebüsch mit einer Kugel in der Lunge oder im Bauch, während die Eingeweide sich langsam mit Blut füllten. Hier waren es sekundenschnelle Paralyse und Tod.
Später an jenem Nachmittag hatte Rusk draußen seine Jagdtrophäe ausgeweidet. Als hätte das Schicksal ihn geschickt, war Eldon Tarver vorbeigekommen und hatte sich erboten, Andrew ein paar zeitsparende Tricks zu zeigen, wie man ein Stück Hochwild ausnahm. Rusk hatte ihm sein Messer gegeben und war Zeuge einer Demonstration von handwerklichem Geschick und anatomischem Wissen geworden, die ihn in sprachloses Staunen versetzte. Er hatte kaum auf Tarvers Worte gehört, so sehr faszinierte ihn der geschickte Umgang des Mannes mit dem Messer. Und jener Teil von Andrew Rusks Gehirn, der nicht voll und ganz von dem blutigen Spektakel gefangen war, das sich vor seinen Augen abspielte, befasste sich mit einer Idee, die bereits einige
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