Leises Gift
Ich würde zu gerne wissen, was aus einem Jungen einen erwachsenen Menschen wie Dr. Tarver macht. Er wusste ein wenig über Tarvers Vergangenheit, jedoch längst nicht genug, um die merkwürdigen Interessen und das seltsame Verhalten dieses Mannes zu erklären. Heute war allerdings nicht der Tag, um diese Dinge zur Sprache zu bringen.
»Wir haben ein Problem«, sagte Rusk unverblümt.
»Ich bin hier, oder nicht?«
»Zwei Probleme genaugenommen.«
»Lassen Sie uns nichts überstürzen«, sagte Tarver. »Setzen Sie sich erst mal. Essen Sie noch ein wenig von der Lende.«
Rusk tat, als würde er ins Feuer starren. Er sah kein Gewehr bei Tarver und keine Handfeuerwaffe. Bei seinen Füßen stand ein Seesack von Nike, groß genug für eine Pistole oder sogar eine Maschinenpistole. Andrew würde den Sack im Auge behalten. »Ich bin eigentlich nicht hungrig«, sagte er.
»Würden Sie es vorziehen, wenn wir gleich zum Geschäft kommen?«
Rusk nickte wortlos.
»Dann sollten wir zuerst die Formalitäten erledigen.«
»Formalitäten?«
»Ziehen Sie Ihre Sachen aus, Andrew.«
Adrenalin schoss in Rusks Adern. Würde er mich auffordern, die Sachen abzulegen, wenn er vorhat, mich umzubringen? Um sich die Mühe zu sparen, meinen Leichnam auszuziehen? Nein. Welchen Sinn ergäbe das hier draußen? »Glauben Sie, dass ich verdrahtet bin, Doktor?«
Tarver lächelte entwaffnend. »Sie sagten selbst, dass es sich um einen Notfall handelt. Der Stress bringt Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie normalerweise unterlassen würden.«
»Werden Sie sich ebenfalls ausziehen?«
»Das ist nicht nötig. Sie haben dieses Treffen einberufen.«
Das stimmte. Und wenn er Tarver richtig einschätzte, würde dieser kein weiteres Wort sagen, solange Rusk sich nicht der Bitte gefügt und seine Kleidung abgelegt hatte. Er dankte Gott, dass er seine Pistole im Wagen zurückgelassen hatte, als er sich nun vorbeugte und die Schnürsenkel seiner Cole Haans aufband. Er stieg aus den Schuhen; dann öffnete er den Gürtel seiner Hose und zog sie ebenfalls aus. Schließlich folgte das Button-Down-Hemd von Ralph Lauren, und er stand in Socken und Unterhose da. Tarver schien das Lagerfeuer zu beobachteten, nicht ihn.
»Ist das weit genug?«, fragte Rusk.
»Ganz, bitte«, antwortete Tarver mit desinteressierter Stimme.
Rusk schluckte eine Verwünschung herunter und zog seine Unterhose aus. Er empfand eine merkwürdige Scham, und das machte ihm zu schaffen. Er hatte sich im Fitnesscenter Hunderte Male vor anderen Männern ausgezogen und hatte seine ganze Jugend damit verbracht, das Gleiche in Umkleideräumen überall im Staat zu tun. Es gab ganz bestimmt nichts, dessen er sich hätte schämen müssen, nicht nach allgemeinen Standards, und eine Reihe von Frauen hatte ihm bestätigt, dass er prächtig ausgestattet war. Doch das hier war etwas anderes. Das hier war sich nackt ausziehen vor einem Kerl mit weiß Gott welchen Perversionen, einem Pathologen obendrein – einem Mann, der tausend Leichen mit kaltem Blick betrachtet hatte und dem kein anatomischer Makel verborgen blieb. Es war unheimlich. Und Dr. Tarver machte es ihm nicht leichter, denn jetzt hob er den Blick und musterte Rusks Körper wie ein Entomologe, der sich paarende Insekten studiert.
»Sie haben die Latissimi trainiert«, beobachtete Tarver.
Das stimmte. Lisa hatte erklärt, dass das Alter seinen Tribut von seinem Rücken verlangte, und so hatte Rusk zur Abhilfe gegen die vermeintliche Schwäche im Club mit den Nautilus-Maschinen trainiert. Doch wie zum Teufel hatte Tarver das mit einem einzigen Blick erkannt?
»Sie sollten mehr Zeit auf die Beine verwenden«, fügte der Pathologe hinzu. »Bodybuilder sind ganz besessen von ihren Oberkörpern, aber unterentwickelte Beine ruinieren den Gesamteindruck. Es kommt auf Symmetrie an, Andrew. Gleichgewicht.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte der Anwalt mit einer Spur von Bitterkeit in der Stimme. Rusk wusste um seine dünnen Beine, auch wenn sie im College gut genug gewesen waren. Abgesehen davon hatte er andere Sorgen als den regelmäßigen Besuch im Studio. Wer war Tarver überhaupt, dass er sich ein Urteil anmaßte? Der Kerl war groß und breit, zugegeben, doch wie fit war er unter der Kleidung? Rusk vermutete, dass unter dem nicht der Jahreszeit entsprechenden Flanellhemd ein massiver Bierbauch lauerte.
»Ziehen Sie sich wieder an«, sagte Tarver. »Sie sehen aus wie eine Schildkröte ohne Panzer.«
Rusk schlüpfte in Hemd und Hose
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