Leises Gift
erschaffen könnte, die schlimm genug wäre. Pass auf dich auf, Kleines, hörst du? Du bist das letzte Kind, das dein Daddy auf dieser Erde hat, und ich will nicht, dass du dein Leben wegwirfst, um einen Toten zu rächen.«
»Das ist es nicht«, flüsterte Alex. »Ich versuche, Jamie zu retten.«
»Das werden wir. Auf die eine oder andere Weise«, sagte Will mit Nachdruck. »Sei bloß vorsichtig. Ich habe ein ungutes Gefühl, was diesen Fall angeht. Das sind ganz üble Typen, mit denen wir uns anlegen. Und nur, weil sie in der Vergangenheit immer langsam getötet haben, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht blitzschnell zuschlagen, wenn sie sich bedroht fühlen. Hörst du?«
»Ja.«
»Dann ist es gut.«
Alex legte auf, die Augen auf dem gelbsüchtigen Gesicht ihrer Mutter. Was konnte sie sonst noch tun hier im Krankenhaus? Sie erhob sich und küsste eine gelbe Wange; dann ließ sie die Hand ihrer Mutter los.
Zeit zu fahren.
20
Andrew Rusk hatte endlich den ganz dicken Fisch an der Angel. Er wusste es so sicher wie damals vor Bimini, als der große Schwertfisch den Köder geschluckt hatte und anschließend wie ein verrückt gewordener Jetski durch die Wellen gejagt war.
Ihm gegenüber am Schreibtisch saß Carson G. Barnett höchstpersönlich, ein überlebensgroßer Mann von sechsundvierzig Jahren und mit so vielen Millionen, dass er längst aufgehört hatte zu zählen. Barnett war eine Legende im Ölgeschäft und hatte schon drei Mal ein Vermögen gemacht und wieder verloren. Jetzt war er erneut auf dem Weg nach oben – ganz nach oben.
Im Verlauf der letzten Stunde hatte Barnett seine Ehesituation beschrieben. Rusk sah ihn mit seiner sorgenvollsten Miene an und nickte an den passenden Stellen, doch er hörte gar nicht richtig zu. Er hatte schon eine ganze Reihe von Jahren nicht mehr richtig zuhören müssen; die Geschichten waren alle gleich. Variationen über ein Thema – ein sehr ermüdendes Thema obendrein. Rusk spitzte nur ein einziges Mal wirklich die Ohren: Als Barnett die geschäftliche Seite der Dinge erwähnte, merkte der Anwalt sich jedes Wort. Doch jetzt war der schlimmste Teil an der Reihe, ein melodramatischer Monolog darüber, wie wenig Barnett gewürdigt wurde.
Rusk wusste, wo der Ölbaron hinwollte, lange bevor er dort war. Rusk konnte die Zeilen dieses Films herunterleiern, ohne nachzudenken. Sie hat sich überhaupt nicht weiterentwickelt, seit wir geheiratet haben. Weder emotional noch psychisch noch intellektuell oder sexuell, klagten die Weicheren über ihre Frauen. Und nicht wenige fügten anschließend hinzu: Aber ihr Hintern ist seither gewachsen wie ein verdammter Baby-Elefant. Ein weiterer universaler Refrain lautete: Sie versteht mich nicht. Und natürlich der Hauptgewinn, der große Preis: Sie kennt mich genaugenommen überhaupt nicht!
Nach Rusks Erfahrung traf üblicherweise das Gegenteil zu. In den meisten Fällen kannten die Frauen ihre Ehemänner viel zu gut – viel besser, als sie wollten, dass jemand sie kannte – und verstanden sie besser als sie sich selbst. Deswegen brach sie nicht jedes Mal in staunende Bewunderung aus, wenn er über seinen neuesten geschäftlichen Triumph schwadronierte, und deswegen beschwerte sie sich lauthals und ausgiebig, wenn er sie enttäuschte, was häufig geschah. Sie hielt ihn längst nicht mehr für brillant (oder auch nur tüchtig) oder fantasievoll im Bett, und er war schon lange nicht mehr witzig – nicht für jemanden, der längst jeden erbärmlichen Witz kannte, den er je zum Besten gegeben hatte, die meisten davon zwei-und dreimal.
Und dann war da noch die Geliebte. Natürlich. Einige Mandanten kamen sofort mit der Sprache heraus und gestanden, dass sie eine Affäre hatten. Andere versuchten zunächst, es zu verheimlichen, nobel zu erscheinen und einen aufopferungsvollen Eindruck zu machen. Rusk hatte Direktheit mehr als alles andere zu schätzen gelernt. Männer und Frauen, die über ihre Scheidung nachdachten, waren wie wandelnde Zeitbomben aus Frustration, Schuld, Lust und nahezu psychotischen Erklärungsversuchen. Doch ganz gleich, wer ihm gegenüber im Sessel saß – ein brillanter Arzt oder ein Trampel, der kaum imstande war, sein gesamtes Vermögen zu überblicken – irgendwann wurden ihnen zwei Dinge bewusst.
Erstens: Es gab keine schmerzfreie Wahl. Wie immer sie sich entschieden, irgendjemand würde leiden. Die einzige Frage war deshalb: Würden sie selbst das Leid ertragen, indem sie ihre Affäre beendeten und
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