Leitfaden Homöopathie (German Edition)
selten die Zeit, nachdem eine akute Krise überwunden wurde, dafür geeigneter. Häufig hat die Krise die Funktion, zu einer grundsätzlichen Überprüfungscheinbar unantastbarer Lebensmaximen aufzufordern. In diesem Sinne kann Krise auch als Chance verstanden werden.
Aufgabe des Arztes
Die ärztliche Aufgabe besteht darin zu erkennen, was an der psychischen Erkrankung das zu Heilende ist und welches Leid der Mensch, durch seine Lebensumstände bedingt, aushalten muss. Man kann nicht erwarten, dass eine homöopathische Behandlung ungelöste seelische Konflikte löst, die zur existierenden psychischen Erkrankung geführt haben. Dies kann Aufgabe einer zusätzlichen psychotherapeutischen Behandlung sein ( Kap. 14.7 ).
Schon für Hahnemann waren die Geistes- und Gemütskrankheiten „keine von den übrigen scharf getrennte Klasse von Krankheiten“ (Organon, § 210). Psychische Krankheiten machen also keine Ausnahme in der homöopathischen Behandlung. Die besondere Schwierigkeit für den Arzt liegt darin, dass sich die vom Patienten beschriebenen Symptome dem Alltagsverständnis oft entziehen – wer kann schon die Gefühle eines Menschen nachvollziehen, der z.B. spürt, dass ihm seine Gedanken von außen entzogen werden?
Die Behandlung psychischer Erkrankungen hat in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht, während das Verständnis für die Ursachen (wie bei anderen Erkrankungen auch) immer noch im Dunkeln liegt. Aufgabe des homöopathischen Arztes ist es wie sonst auch, das homöopathische Heilmittel zu suchen und zu finden, ohne sich von den Symptomen der Patienten faszinieren oder abschrecken zu lassen. Psychiatrische Patienten sind weder intelligenter oder einfältiger noch reicher oder ärmer als ihre Mitmenschen. Sie entstammen allen sozialen Schichten. Es sind Menschen, die durch eine bestimmte miasmatische Veranlagung die Neigung gerade zu Erkrankungen aus dem Geistes- und Gemütsbereich ererbt haben und deshalb entsprechende Krankheitsbilder entwickeln. Unter der Krankheit leidet sowohl der Patient als auch häufig dessen Umgebung. Jede Art von Mystifizierung und Stigmatisierung ist fehl am Platz und schadet einer rationalen Therapie.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die theoretische und praktische Vorgehensweise zu erläutern, so wie sie sich den Autoren nach vieljähriger Erfahrung als Erfolg versprechend dargestellt hat. Auf die Beschreibung der Behandlung spezieller psychiatrischer Krankheitsbilder und die Darstellung besonderer, bei der Behandlung psychiatrischer Patienten häufiger indizierter Arzneimittel muss im Rahmen dieses Beitrags verzichtet werden.
14.2 Hahnemanns Konzeption psychischer Krankheiten
Nach Hahnemanns Beobachtungen können grundsätzlich zwei Arten psychischer Krankheiten unterschieden werden.
Somatogene psychische Krankheiten
Körperkrankheiten (endogene Psychosen: manisch-depressive Erkrankungen, Schizophrenie, paranoide Psychosen): Jede körperliche Erkrankung, ob es sich um einen gebrochen Arm handelt, einen akute Tonsillitis oder eine chronische Hepatitis, führt – wenn genau beobachtet wird – auch zu bestimmten Veränderungen imGeistes- und Gemütszustand (vgl. Organon, § 210). Wenn bei einer Erkrankung die Symptome auf der körperlichen Ebene vollständig in den Hintergrund treten, sodass nahezu nur noch Symptome auf der Geistes- und Gemütsebene zu beobachten sind, dann bildet dies die somatogene Gruppe von Geistes- und Gemütskrankheiten. Es handelt sich primär um gewöhnliche Körperkrankheiten, allerdings mit so genannter „einseitiger“, weil nur in den Geistes- und Gemütsbereich verlagerter Symptomatik (Organon, § 215).
Unter psychischen Krankheiten (= Geistes- und Gemütskrankheiten) versteht man also Beschwerden, die sich primär in einer Beeinträchtigung des Geistes- und Gemütszustandes ausdrücken und bei denen sonstige körperliche Symptome in den Hintergrund treten. Man findet oft keine organische/biologische Ursache. Die Diagnostik basiert auf einer präzisen Beschreibung der Psychopathologie und dem Ausschluss anderer körperlicher Krankheiten. Entscheidend sind beobachtbare Verhaltensänderungen und die Beschreibungen, die der Patient von seinem Zustand gibt.
Psychogene Krankheiten
Krankheiten, die „vom Gemüt aus ihren Anfang und Fortgang“ nehmen (Organon, § 225), hervorgerufen durch „anhaltenden Kummer, Kränkung, Ärger, Beleidigungen und große häufige Veranlassungen zu Furcht und Schreck“
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