Lemberger Leiche
Jungen am liebsten möglichst schnell befragt und sie ärgerte sich, weil das Verhör auf Montag angesetzt wurde. Meinetwegen, dachte sie, dann werde ich jetzt den schriftlichen Kram aufarbeiten und mal pünktlich Feierabend machen.
Nachdem Stöckle und Katz gegangen waren, sortierte Irma die Papiere, die kreuz und quer auf dem Besprechungstisch lagen. Sie hätte gern noch mal alle Fakten mit Schmoll durchgesprochen. Aber der begann trotz der Hitze mit seinen Nachdenkekniebeugen. Und da er stinksauer wurde, wenn jemand ihn dabei störte, nahm Irma nach dem sechsten Klingelton sein Telefon ab – und wurde bleich.
Sie stammelte: »Das kann doch nicht wahr sein! Also gut, dann bringt sie rauf.« Dann seufzte sie tief durch, murmelte: »Auch das noch«, und setzte sich an den Computer.
Schmoll schnaufte bereits, gab auf, tappte ein paar Runden durchs Büro und fragte: »Was war los?«
Im selben Moment sah er, was los war: In der offenen Tür stand ein Mitarbeiter der Hauswache mit einer Frau im Schlepptau. Die Frau bückte sich gerade nach ihrem Besucherausweis, der mit einem Clip an ihrer Bluse befestigt gewesen war und nun vor ihren Füßen lag.
Während sie den kleinen Ausweis mühsam wieder an den Busen steckte, motzte sie Schmoll ganz ungeniert an: »Kann mir jemand sagen, warum dieses blöde Ding ständig abfällt?«
Gewohnheitsmäßig, wie er es bei allen ihm unbekannten Menschen tat, machte sich Schmoll blitzartig sein Bild von dieser Frau: Trotz ihrer Maulerei war der Gesamteindruck nett und harmlos. Adrett, aber einen Tick zu jugendlich gekleidet. Den fransigen, karottenrot gefärbten Kurzhaarschnitt fand Schmoll etwas übertrieben. Aber diese gewagte Frisur verlieh dem molligen Persönchen eine übermütige, unbekümmerte Ausstrahlung. Schmoll dachte an eine Zeugin, war aber sicher, dass für heute niemand mehr auf der Liste stand.
Er donnerte: »Draußen warten!«
Die Frau kicherte und rief: »Also, Irmchen, nun hilf mir doch! Der darf mich doch nicht rausschmeißen, nachdem ich endlich da bin!« Und bevor Irma antworten konnte, trippelte die Frau näher, umarmte Irma und flötete: »Da hab ich dich also doch gefunden, mien lütt Deern.«
Irma schenkte ihr ein Tochterlächeln, das ziemlich verklemmt ausfiel.
Schmoll stellte sich vor und schüttelte Frau Eichhorn die Hand.
Und wahrscheinlich, weil er fürchtete, die Mama nicht anders loszukriegen, sagte er großzügig: »Nehmen Sie Ihr Töchterle nur mit. Ist ja sowieso gleich Feierabend.«
»Oh, das ist aber nett, Herr Hauptkommissar«, säuselte Mama Eichhorn, ließ sich unaufgefordert auf dem Besucherstuhl nieder und sah ihre Tochter erwartungsvoll an, was hätte heißen können: Nun mach schon Schluss. Gehen wir.
Irma machte Schluss und sie gingen.
Als sie das Präsidium hinter sich hatten und Irma den Koffer, der bei der Hauswache deponiert gewesen war, Richtung Haltestelle Pragsattel rollte, fand sie endlich die Sprache wieder: »Du liebe Zeit, Mam, wo kommst du denn her?«
»Überfall gelungen!«, flötete die Mama, hakte sich bei Irma unter und sprudelte los, wie es ihre Art war: »Wo ichherkomme? Natürlich aus Itzehoe. Ab Hamburg mit Herrn Jansen in seinem neuen Mercedes. Der hat vielleicht aufgedreht. Wenn wir nicht so ausführlich im Rasthof Kassel-West Mittag gegessen und geklönt hätten, wären wir in fünf Stunden hier gewesen.«
»Ich nehme an«, sagte Irma, »Herr Jansen besucht seinen Sohn – diesen unsympathischen Knut, mit dem du mich Weihnachten verkuppeln wolltest.«
»Also, da warst du nicht plietsch! Diese Chance hast du verpasst. Knut Jansen ist inzwischen in festen Händen. Eine Jungmanagerin bei Mercedes-Benz. Sie arbeitet im gleichen Werk, in dem auch Knut in der Chefetage sitzt.«
»Wie schön für ihn«, sagte Irma. »Und du hast dir den alten Jansen warmgehalten. Na ja, der ist wenigstens umgänglich. Gratuliere.«
Inzwischen saßen sie in der Straßenbahn und fuhren stadteinwärts. Mama Eichhorn beschwerte sich wieder einmal, dass Irma kein Auto hatte.
»Ist das dein ganzes Gepäck?«, fragte Irma, die gewohnt war, dass ihre Mutter mit mehreren Riesenkoffern verreiste.
»Aber nein. Das ist nur mein Notgepäck für Stuttgart. Meinen Koffer habe ich gleich in Kai-Friedrichs Mercedes gelassen, weil wir ja am Sonntagmorgen weiterfahren.«
Irma registrierte, dass Mama mit Herrn Jansen zum Du, zumindest aber bis zum Vornamen gekommen war, und fragte, wohin die Weiterreise ginge.
»Nach Baden-Baden!
Weitere Kostenlose Bücher