Lemberger Leiche
Frau Eichhorn bildeten das Rücklicht. Die Vorhut merkte am fröhlichen Geplauder der beiden, dass Mama Eichhorn ihren gesamten Charme über Schmoll ergoss und ihn fröhlich einwickelte.
Die Terrasse der Besenwirtschaft war verwaist. Ein Plakat informierte, sie würde erst ab nächsten Donnerstag für das Wochenende mit dem traditionellen Sommerfest wieder geöffnet sein. Die Damen Katz und Eichhorn waren bitter enttäuscht und jammerten im Duett. Aber es blieb nichts anderes übrig als erst mal auf dem Feuerbacher Höhenweg weiterzuwandern. Die Hoffnung Schmolls, jemanden zu treffen, den man hätte fragen können, ob er in den letzten Tagen in der Nähe des Kotzenlochs etwas gehört oder gesehen hatte, wurde nicht erfüllt. Es schien, als ob dieser beliebte Panoramaweg an diesem Tag Ruhetag hätte. Das bevorstehende Fußballspiel hatte alle Leute, die noch vor einer Stunde spazieren gegangen waren, vor die Fernseher getrieben. Noch fünfzig Minuten bis Spielbeginn!
Schmoll sah ein, dass es hier nichts zu ermitteln gab, und zeigte sich von seiner großzügigen Seite: Er ließ Irma mit Mama und Oma Katz ihre Wanderung hinunter nach Feuerbach fortsetzen und empfahl ihnen den Biergarten seiner Stammkneipe. Dann kehrte er selbst zum Kotzenloch zurück, schickte Katz den Damen hinterher und half bei der Spurensuche. Da sich der Spinathimmel verzogen hatte, arbeiteten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die ganze Zeit über war in der Ferne Donnergrollen zu hören. Im Tal wurden vier deutsche Tore mit Geschrei aus tausend Kehlen und Triumphtuten aus Vuvuzelahörnern begrüßt.
Gegen halb zehn tappte Schmoll als Letzter vom Suchtrupp die Kotzenlochstaffel hinunter, holte seinen geliebten alten Daimler vom Parkplatz und fuhr Richtung Stammheim nach Hause. Er konnte nicht abschalten. War der Toddes alten Engelhard schon rätselhaft genug, so war der des jungen Mannes aus dem Kotzenloch geradezu mysteriös. Beide Fälle lagen mitten in seinem Ermittlungsgebiet und nicht weit voneinander entfernt. Aber wo, zum Teufel, sollte da ein Zusammenhang bestehen?
Schmoll ahnte, dass er ab sofort zwei Mordfälle gleichzeitig am Hals hatte.
Acht
Sonntag, 4. Juli
Das Gewitter hatte sich lange zurückgehalten, grollend zwar und mit Sturmböen als Vorhut, aber als es endlich mit Urgewalt losbrach, zog es alle Register.
Mama Eichhorn wurde um vier Uhr früh vom ersten markerschütternden Schlag geweckt und lernte beim anschließenden Inferno aus Blitz und Donner das Fürchten.
Deswegen schlich sie ins Wohnzimmer, postierte sich vor dem Sofa, auf dem sich Irma schlafend stellte, und schluchzte: »Diese Schläge können ja Tote aufwecken!«
Irma scheuchte sie mit wenig zartfühlenden Worten zurück ins Schlafzimmer und sagte ihr, wo das Ohropax lag.
Tote aufwecken!, dachte Irma. Vor ihren geschlossenen Lidern tauchte der lädierte Körper des zierlichen jungen Mannes auf, den ihre Kollegen aus dem Kotzenloch geborgen hatten. Dieses Bild ließ sich nicht mehr verdrängen. Was war auf dem idyllischen Lemberg geschehen? Wann war es geschehen? Und warum? Warum? Warum? Das Warum war immer die Frage, die sich am schwierigsten beantworten ließ. Solange aber nicht geklärt war, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte, würde diesem Geheimnis nicht beizukommen sein.
Irma zuckte zusammen, weil ein Donnerschlag krachte, als wäre der Blitz direkt über ihr ins Dach gefahren. Gleich wird Mam wieder angetanzt kommen und mir die Ohren volljammern, dachte sie. Das Gewitter scheint sie weit mehr zu erschrecken als gestern der Leichenfund. Aber da Mam den Toten nicht gesehen hat, geht ihr die Sache nicht nahe. Ich bin froh, dass sie keine Details wissen wollte. Sie hat nur geschimpft, es sei eine Zumutung für die Polizei, eine Leiche wegräumen zu müssen, weil sich so ein Jungchen aus Liebeskummer in ein Mergelloch gestürzt hätte. Danach hat Mamdas Problem weggesteckt und den Tag frohgemut in einem Feuerbacher Biergarten ausklingen lassen. Irma gähnte und wälzte sich auf die andere Seite. Mam ist schon halb in Baden-Baden. Sie lässt sich ihre gute Laune nicht durch eine Leiche verderben. Dass ich einen Mörder finden muss, darüber denkt sie ganz gewiss nicht nach.
Das Gewitter kreiste um Stuttgart wie ein lärmender Dämon. Irma setzte sich auf und sah zum Fenster: Der Himmel wurde von Blitzen zerhackt, und es krachte in kurzen Abständen. Am Birnbaum regte sich kein Blatt. Selbst im Zimmer schien sich die Luft zu verdichten.
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